Die Hirnforscher John O’Keefe sowie das Ehepaar May-Britt und Edvard Moser erhalten den Nobelpreis. Sie haben entschlüsselt, wie der Orientierungssinn im Gehirn verankert ist: Spezialisierte Zellen stehen für bestimmte Orte und die Abstände dazwischen.

Stuttgart - May-Britt und Edvard Moser sind zutiefst von ihrer Arbeit begeistert: „Wenn das nicht faszinierend ist, was ist dann faszinierend?“, kommentiert May-Britt Moser ihre Forschung in einem Video. Gedreht wurde der Film erst kürzlich, weil dem Ehepaar am 5. September in Hamburg der diesjährige Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft verliehen wurde. Nun ist dieser Auszeichnung, die immerhin mit 750 000 Euro dotiert ist, die Krönung eines Forscherlebens hinzugefügt worden: Das Ehepaar teilt sich den diesjährigen Nobelpreis für Medizin je zur Hälfte mit dem in New York geborenen John O’Keefe, der seit 1987 Professor am University College London ist. Die drei Wissenschaftler bekommen die Auszeichnung, die mit knapp 880 000 Euro verbunden ist, für die Entdeckung von Zellen, die ein Positionierungssystem im Gehirn bilden.

 

Die Arbeit der drei Forscher habe „unser Verständnis, wie fundamentale kognitive Funktionen durch neuronale Schaltkreise bewerkstelligt werden, dramatisch verändert“, würdigt das Nobelkomitee die Erkenntnisse der Neurowissenschaftler. Die Grundlagen hierfür wurden bereits 1971 gelegt. Ende der 1960er Jahre hatte John O’Keefe in London mit seinen Arbeiten über das Verhalten von Tieren begonnen und dabei in einer speziellen Hirnregion, dem Hippocampus, die sogenannten Ortszellen entdeckt. Die Arbeit wurde 1971 zusammen mit Jonathan Dostrovsky publiziert. Die im Gehirn von Ratten entdeckten Nervenzellen erwiesen sich als ein ganz besonderer, bis dahin nicht bekannter Zelltyp: Sie waren nur aktiv, wenn sich das Tier an einer ganz bestimmten Stelle in seiner Umgebung aufhielt – und zwar genau an dem Ort, für den die jeweiligen Ortszellen zuständig sind.

In systematischen Versuchen wies O’Keefe anschließend nach, dass die Aktivitäten dieser Zellen das Abbild der Umgebung repräsentieren, in der sich die Ratte befindet. Zumindest die Grundlagen des internen Navigationssystems waren damit entschlüsselt. Auch erkannte O’Keefe, dass diese Zellen ein Ortsgedächtnis bilden: Eine Umgebung kann durch eine spezifische Kombination von aktivierten Ortszellen in Erinnerung bleiben. Viele weitere Details über die Funktionsweise sollten in den nächsten Jahren folgen – mit entscheidenden Beiträgen des Ehepaars Moser.

Zentral ist der Hippocampus im Gehirn

Ein wichtiger Teil von O’Keefes Erfolg war, dass er die Reaktionen der Nervenzellen aufzeichnete, während sich die Tiere frei bewegten – also nicht fixiert waren, sondern sich ganz natürlich benehmen konnten. Diese Technik wendet auch das Ehepaar Moser an: Den Ratten werden extrem feine Elektroden an bestimmten Stellen des Gehirns eingepflanzt. Anschließend erkunden die Tiere ihre Umwelt – und dabei wird im Computer festgehalten, welche Zellen in welchen Hirnbereichen aktiv sind. Solche Versuche sind allerdings nur möglich, wenn die Tiere aktiv mitmachen. Den Forschern liegt daher das Wohl ihrer Versuchstiere sehr am Herzen – die Tiere sind Teil ihres Teams.

Mit solchen Experimenten entdeckten die norwegischen Forscher dann einen weiteren Zelltyp, der für die interne Navigation unerlässlich ist: die Rasterzellen. Diese befinden sich in einer Nachbarregion des Hippocampus, dem entorhinalen Cortex, der aus rund 100 000 Nervenzellen besteht. Während die Ortszellen im Hippocampus sozusagen mentale Landkarten erzeugen, sie wie auf einem Display „anzeigen“ und dann auch abspeichern, laufen die dazu gehörigen Rechenarbeiten in diesem eng benachbarten Hirnteil ab. Als diese Erkenntnisse 2005 veröffentlich wurden, stufte sie das Fachjournal „Science“ als wichtigste neurobiologische Entdeckung der vergangenen beiden Jahrzehnte ein.

Wichtig dabei ist, dass die Rasterzellen den Raum in eine Vielzahl von Dreiecken aufteilen und so eine Art Koordinatensystem bilden. Offenbar messen die Ratten mit den Rasterzellen und diesem System die Zahl ihrer Schritte – und erhalten somit auf ihrer mentalen Landkarte ein Maß für Abstände. Interessant ist auch, dass die Rasterzellen auch dann aktiv sind, wenn die Tiere bei völliger Dunkelheit unterwegs sind – optische Reize mithin keine Rolle spielen. Dies sei eine eigene Leistung des Gehirns, so Edvard Moser.

Beim Menschen funktioniert das Navi vermutlich ähnlich

Eine weitere grundlegende Entdeckung folgte dann 2008: die sogenannten Grenzzellen. Sie werden – wie der Name besagt – aktiv, wenn sich die Ratten Grenzen annähern, etwa den Wänden ihres Käfigs oder großen Hindernissen. Und noch ein weiterer Zelltyp spielt bei der internen Navigation eine wichtige Rolle: die Kopfrichtungszellen, die bereits in den 1980er Jahren von US-Forschern entdeckt worden waren. Sie stellen eine Art Kompass dar, indem sie aktiv sind, wenn die Ratte den Kopf in eine bestimmte Richtung hält. So lässt sich die mentale Landkarte in Blickrichtung ausrichten.

Die Leistungen aller drei Zelltypen zusammen ermöglichen also die Orientierung der Ratte im Raum. Inzwischen mehren sich die Hinweise, dass dieses Navigationssystem auch bei anderen Säugetieren einschließlich des Menschen so funktioniert. Für Alzheimer-Patienten könnten die Erkenntnisse neue Therapieansätze ermöglichen – allerdings in eher ferner denn naher Zukunft. Denn bei diesen Menschen sterben die Zellen des entorhinalen Cortex bereits in einem frühen Krankheitsstadium ab – die Betroffenen verlieren die Orientierung. Das Wissen um die Zusammenhänge könnte ihnen vielleicht helfen, ihren lädierten Orientierungssinn zu verbessern.

Das ausgezeichnete Forscherteam

Britischer Amerikaner
John O’Keefes Eltern stammen aus Irland, er selbst wurde 1939 in New York geboren. Nachdem er an der McGill University im kanadischen Montreal promoviert hatte, ging er nach England, wo er seit 1967 am University College in London forscht. Er ist britischer und amerikanischer Staatsbürger.

Forscherehepaar
Die 1963 geborene May-Britt und der ein Jahr ältere Edvard Moser lernten sich beim Studium in Oslo kennen und heirateten 1985. Sie haben drei Kinder: zwei Töchter – und ihr Labor. Nach Forschungsaufenthalten in Edinburgh und London bei ihrem Mentor und Mit-Preisträger O’Keefe folgen sie 1996 einem großzügigen Angebot der Universität im norwegischen Trondheim: Dort gründen sie das Centre for the Biology of Memory, aus dem das von ihnen geleitete Kavli Institute for Systems Neuroscience hervorgeht. Edvard Moser entging zunächst der Anruf des Nobel-Kommitees, weil er gerade zu einem Forschungsaufenthalt nach München flog.