Im Englischen gibt es den schönen Ausdruck „defining moment“. Er beschreibt jenen Augenblick im Leben eines Menschen, der allem Vorangegangenen und allem Nachfolgenden die entscheidende Prägung gibt. Alle bundesrepublikanischen Kanzler hatten solche „defining moments“. Für Willy Brandt war es der Kniefall in Warschau, der ihn zu einem großen Versöhner machte. Für Helmut Kohl war es der Mauerfall, dessen welthistorische Wirkung er sofort erkannte und staatsmännisch nutzte. Vielleicht malt sich Angela Merkel manchmal aus, dass später in den Geschichtsbüchern der 4. September 2015 als ihr „defining moment“ herausgepickt wird – der Tag, an dem sie Tausende von Flüchtlingen, die in Österreich gestrandet waren, ins Land ließ. Diese Entscheidung eröffnete neue Sichten: auf eine Angela Merkel, die zupackt, statt abzuwarten. Die nicht mehr dem vermeintlichen Mehrheitswillen der Bevölkerung folgt, sondern ins Risiko geht. Die nicht vom Ende her denkt, sondern spontan und mitfühlend reagiert. War hier die wahre oder wenigstens eine neue Angela Merkel zu sehen? Und: wird das Ganze gut für sie ausgehen? Gerhard Schröders „defining moment“ war die Verkündung der Agenda 2010 – ein Reformprojekt, das dem Land diente, für das aber Schröder wie seine Partei mit dem Machtverlust bezahlten.

 

Rainer Pörtner
ist sich sicher, dass sein ganz persönlicher „defining moment“ die Weltläufte nicht verändern wird.