Stuttgart - Vor knapp zwei Jahren kam mit den Missbrauchs-Vorwürfen gegen den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein die Metoo-Bewegung ins Rollen. Generell betrifft die Frage, wo und wann Menschen, zumeist Männer, ihre hierarchische Macht benutzen, um andere Menschen, zumeist Frauen, zu bedrängen, zu demütigen oder sexuell auszunutzen, alle Bereiche von Politik und Gesellschaft. Aber ihr Ausgangspunkt war im Herbst 2017 die Kultur. Und auch zwei Jahre später hat Metoo die Kultur fest im Griff.
Nur ein Beispiel: Am Sonntag wird Placido Domingo bei den Salzburger Festspielen in einer konzertanten Aufführung von Verdis Oper „Luisa Miller“ auftreten. Würden die Festspiele nicht in Österreich, sondern in den USA stattfinden, wäre der 78-jährige weltberühmte Sänger vermutlich gerade ausgeladen worden. Amerikanische Kulturinstitutionen reagierten sofort, nachdem neun Frauen Domingo sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz, sprich: im Theater vorgeworfen hatten. Diese Übergriffe sollen in den 1980er Jahren stattgefunden haben. Acht der Anklägerinnen bleiben anonym. Der Sänger selbst bestreitet, den Willen der Frauen bewusst missachtet zu haben. Während Domingo-Auftritte in Amerika umgehend vom Veranstalter abgesagt wurden, hielten die Salzburger Festspiele am Programm fest. Deren Präsidentin Helga Rabl-Stadler sagt, es gelte, im Zweifel für den Angeklagten. Man reagiere erst auf genauere Untersuchungen.
Aber darf Placido Domingo jetzt wirklich noch auf einer Bühne stehen und dort Verdi-Arien singen?
Darf man Woody-Allen-Filme noch gut finden?
Nächstes Beispiel: Gerade hat die US-Schauspielerin Gina Gershon ihre Dreharbeiten mit dem Regisseur Woody Allen abgeschlossen, eine romantische Komödie mit dem Titel „Rifkin’s Festival“; Christoph Waltz spielt auch mit. Zum Abschied postet sie auf Instagram ein gemeinsames Bild von sich und Allen; dazu schreibt sie: „Vielen Dank, Woody, dass ich mitmachen durfte und dafür, dass du über all die Jahre einige meiner Lieblingsfilme gedreht hast.“ Daraufhin erntet sie Angriffe aus dem Follower-Kreis: „Ich mochte dich so sehr. Dass du ihn unterstützt, bricht mir das Herz.“ Oder: „Er ist ein Sexualstraftäter. Ihm zu verzeihen, weil er ein Filmemacher ist, verdreht die Tatsachen“.
Darf man Woody-Allen-Filme also noch gut finden, obwohl es seit Jahren schwere Vorwürfe gegen ihn gibt, er habe einst eine seiner Töchter in jungen Jahren missbraucht?
Ein drittes Beispiel: Am Donnerstag kommender Woche beginnen die Filmfestspiele in Venedig. Einer der Kandidaten im Wettbewerb: Roman Polanski. Er präsentiert seinen neuen Film „J’accuse“. Die USA fordern schon seit Jahren die Auslieferung Polanskis an die amerikanische Justiz, um ein Gerichtsverfahren wegen Vergewaltigung aus den späten 1970er-Jahren abschließen zu können, dem sich Polanski damals durch Flucht entzog. Als Folge der Metoo-Debatte hat ihm die Oscar-Akademie spät, nämlich 2018 die Mitgliedschaft entzogen. Er wird zur Filmpremiere in Venedig vermutlich nicht selbst anreisen, weil Italien ein Auslieferungsabkommen mit den USA hat.
Die Metoo-Debatte ermutigt, sich zu wehren
Aber lautet die Frage nicht sowieso: Kann man einen Polanski-Film, und sei er noch so gut, unter den gegebenen Umständen überhaupt noch auf einem Festival zeigen? Ihn zum Schluss womöglich mit Preisen auszeichnen?
Rund zwei Jahre nach den ersten Vorwürfen gegen Harvey Weinstein wird niemand ernsthaft bezweifeln können, wie wichtig die Metoo-Bewegung insgesamt für die öffentliche Debatte war und ist. Opfer hierarchischer Macht, von Bedrängnis, Erniedrigung und sexueller Ausnutzung fanden und finden in der Öffentlichkeit nicht nur Gehör für ihre schmerzvollen Erlebnisse, sondern auch die Bereitschaft, Konsequenzen daraus zu ziehen. Die wichtigste Konsequenz ist dabei die Ermutigung an alle anderen, vor allem Jüngere, sich selbstbewusst und von Beginn an gegen derartige Erniedrigung zu wehren und konsequent auf gegenseitigen Respekt als Grundlage jedweder Arbeitsbeziehung zu bestehen.
Wobei, dies als notwendiger Einschub, es allerdings nicht nur für die Debatte, sondern letztlich auch für die Opfer segensreich wäre, wenn in Zukunft wieder eine stärkere Differenzierung der Taten und ein sensiblerer Umgang mit Begriffen die Regel würde: Die heftigen und dezidiert unerwünschten Annäherungsversuche eines Opernsängers sind noch keine Vergewaltigung. Und über den Status „Straftäter“ sollten auch in Zukunft allein unabhängige Richter entscheiden, und eben nicht die Masse der Facebook-, Twitter- oder Instagram-User.
Unabhängig davon bleibt aber die Frage, warum die Metoo-Debatte vor allem die Kultur so heftig beschäftigt. Das liegt daran, dass diese Kultur ganz ähnlich wie die Kirche zwei Seiten hat: eine Produktions- und eine Schauseite. Hinter den Kulissen wird gearbeitet wie in anderen Unternehmen auch; hinter diesen Kulissen finden auch womöglich jene Machtübergriffe statt, die zu Recht zu beklagen und zu ahnden sind. Vor und in den Kulissen aber steht das Kunstwerk – im Blick einer Öffentlichkeit, die gerade bei großer Begeisterung über die Kunst stets dazu neigt, die Bedingungen von deren Entstehung zu idealisieren und die Produzenten, die sie noch dazu gern Schöpfer nennt, zu heroisieren.
Menschen sind zu erschreckend Schlimmem fähig
Ein Teil der Empörung und der Wut, die sich gegen reale oder auch nur mögliche Metoo-Täter in Kunst und Kultur richtet, ist dem Mitgefühl mit den Opfern zuzurechnen. Ein anderer Teil aber zweifellos der eigenen Kränkung. Wie kann es sein, dass ein Mann, der uns mit seinem Gesang, seinem Spiel, seien Filmen, Bildern oder Büchern derart berührt, als ganz normaler Mensch so schlimme Dinge tut? Eigentlich ist die Antwort darauf natürlich ganz einfach: Weil seit jeher jede Erfahrung lehrt, dass prinzipiell alle Menschen fähig sind, unter bestimmten Bedingungen erschreckend schlimme Dinge zu tun. Aber ist die Kunst, die sie auf der Schauseite produzieren, dann nicht auch befleckt und zerstört?
Die Antwort lautet: Nein. Natürlich kann unter dem Eindruck der Informationen jeder für sich entscheiden, keine CD von Placido Domingo mehr hören oder keinen Film von Woody Allen oder Roman Polanski mehr sehen zu wollen. Aber das ändert nichts daran, dass Domingo herrlichen Gesang und Allen oder Polanski großartige Filme geschaffen haben. Oder, um zur Abwechslung tief in die Filmgeschichte zu greifen: Die beklagenswert schlimme Art, mit der Alfred Hitchcock während der Dreharbeiten wohl seine Hauptdarstellerin Tippi Hedren traktiert hat, ändert nichts daran, dass der Film „Die Vögel“ zu den Schlüsselwerken unserer modernen Kultur zählt.
Diese spezielle Grenze zwischen Produktions- und Schauseite gilt es auch in der Kultur-Metoo-Debatte auszuhalten. Gerade so wie die Unentschiedenheit, die in vielen Fällen bleiben wird: Manches, was womöglich vor zwei, drei, vier Jahrzehnten stattfand, lässt sich nicht mehr aufklären und wird zumindest in demokratischen Staaten von Rechtsinstanzen auch nicht mehr verfolgt. Bei vielem wird schlussendlich unentscheidbar Aussage gegen Aussage stehen. Das zeigt, wie trotz aller emotionalen Empörung der öffentliche Umgang mit diesem Thema letztlich hochsensibel sein muss. Und der Auftrag für die Zukunft wird dadurch nur noch drängender.