Michel Friedman über Judenhass Aufrüttelnder Appell an die Gleichgültigen

Vom „nie wieder“ ist das nur das „wieder“ übrig: Michel Friedman (Mitte) mit Felix Heidenreich und Petra Olschowski Foto: Sebastian Wenzel

Wie kann es sein, dass in Deutschland, das sich seine Erinnerungskultur zugute hält, der Antisemitismus grassiert? Der Publizist Michel Friedman hat mit der baden-württembergischen Kunstministerin Petra Olschowski über sein Buch „Judenhass“ diskutiert.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Der Anlass ist schlimm, niederschmetternd der Befund. Und doch wird der Abend mit Michel Friedman im Stuttgarter Hospitalhof in Erinnerung bleiben als ein seltenes Ereignis von aufrüttelnder Intensität und Dringlichkeit, das den besänftigenden Schleier zufriedener Selbstvergewisserung empört zerreißt, der sich für gewöhnlich zwischen das Publikum kultureller Veranstaltungen und den dabei erörterten Problemen legt.

 

Der Publizist, Rechtsanwalt und ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden spricht mit der baden-württembergischen Kunst- und Wissenschaftsministerin von den Grünen, Petra Olschowski, über sein Buch „Judenhass“. Es ist entstanden als Reaktion auf den Widerhall, den der mörderische Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober in Deutschlands Straßen gefunden hat. Wobei Widerhall nur auf die feiernden pro-palästinensischen Kundgebungen zutrifft, mindestens so verstörend aber war das laute Schweigen der Mehrheitsgesellschaft.

Dem Gespräch ist das Kapitel „Brief an die Gleichgültigen“ vorangestellt, Friedman liest es in direkter Ansprache des Auditoriums. „Wo sind Sie? Wo waren Sie, als wir Sie brauchten? Als wir das Gefühl brauchten, dass es einen Schutzschild gibt – eine Gesellschaft, eine Gemeinschaft, die den Judenhassern mit ihren Vernichtungsfantasien etwas entgegensetzt.“ Statt Solidaritätsbekundungen musste die jüdische Gemeinschaft erleben, dass sich zu muslimischen Antisemiten links- und rechtsradikale deutsche Demonstranten gesellten. Auf dem Spiel steht Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Keinen Zweifel lässt Friedman daran, dass, wo diese Würde für eine Gruppe eingeschränkt wird, die Demokratie als Ganzes in Frage steht.

Was ist in unserer Gesellschaft los, fragt der Philosoph und Demokratietheoretiker Felix Heidenreich, der den Abend moderiert, warum fällt es uns so schwer, ins Handeln zu kommen? Eigentlich müsste er selbst der Adressat seiner Frage sein, erwidert Friedman – wie im Übrigen alle Zuhörer im Raum. Für ihn reicht das, was nach dem 7. Oktober so schrecklich sichtbar geworden ist, weiter zurück. Bis auf seine Eltern und seine Großmutter wurde Friedmans Familie bei der Shoah ermordet. Als er mit zehn Jahren aus Paris nach Deutschland übersiedelte, habe er erwartet, in ein Land mit von Nazis voll besetzten Gefängnissen zu kommen. Vorgefunden habe er stattdessen weiße Tapeten, Wirtschaftswunder, politische Amnesie. Wie soll aus diesem Schweigen eine Haltung erwachsen, die es aushält, eine Vielfalt von Antworten emotional und rational abzuwägen. Deutschland habe nie eine produktive Streitkultur entwickelt, weil eine dröhnende Schweigekultur alles erstickt hat.

Das Gift des Populismus

Stattdessen gärt der Hass. Für Petra Olschowski hat die digitalisierte Gegenwart daran ihren Anteil: dass sich Gruppen in Blasen zurückziehen, in denen sie ihre Haltung bestätigt finden und immer nur das Eigene im Blick haben statt die Solidarität mit der Gemeinschaft. Doch nie hätte sie für möglich gehalten, was sich nach dem 7. Oktober in Deutschland gezeigt hat: „Zum ersten Mal sehe ich deutlich, was wir über Jahre zugedeckt und klein gehalten haben, damit wir unser Leben wie gewohnt führen konnten.“

Diesem Zugedeckten gibt Michel Friedman Namen: Die Anschläge von Halle, rechtsterroristische Mordserien, er zitiert den Präsidenten des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, der vor zwei Jahren den Rechtsextremismus als die größte Bedrohung der Demokratie bezeichnet hat – allzu lange hat man die davon ausgehende Bedrohung als eine Sache verirrter Einzeltäter verharmlost. „Jude“ ist ein verbreitetes Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen und Fußballplätzen. „Wie kann man das nicht gemerkt haben, wir alle wissen, dass wir einen strukturellen Rassismus und einen strukturellen Judenhass in unserer Gesellschaft haben.“ Von diesem Gift nährt sich eine Partei wie die AfD und wächst und wächst.

Und nicht nur sie. Petra Olschowski erzählt, wie sie damit konfrontiert wurde, nicht mehr nur in den angestammten rechten Brutstätten auf Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit zu stoßen, sondern auch in den Debatten, die in ganz anderen Bereichen der Gesellschaft geführt werden. Zum Beispiel in der Kulturszene.

Gebrochenes Versprechen

„Wie oft wollen wir noch Veranstaltungen absagen, weil ein autoritärer Mob uns mit Gewalt droht?“, fragt Michel Friedman und erinnert an das Klatschen von Kulturstaatsministerin Claudia Roth bei der Berlinale, als auf dem Podium Israel Apartheid vorgeworfen wurde, ohne die Hamas auch nur zu erwähnen.

Was seinen Einspruch so bestürzend macht, ist die ungeschützte Emotionalität. Nicht umsonst wählt er in vielen Kapiteln seines Buches die intime Form des Briefes. Hier geht es nicht um Theorie, sondern um persönliche Erfahrung, enttäuschte Hoffnung und die verzweifelte Empörung über das schon lange vor den Terrorattacken gebrochene „Nie-wieder“-Versprechen, trotz aller Sonntagsreden.

Wie fühlt man sich in Gesprächen, die mit „Sie wissen, dass ich kein Antisemit bin“ beginnen? Überhaupt dieses grassierende „Aber“, das klarste Ansprüche auf menschliches Mitempfinden zu verunklären sucht. Und wie erklärt man seinen Kindern, dass sie ihr Jüdischsein am Besten verbergen, und dass sie nur unter Polizeischutz in Schule und Kindergarten gelangen können?

„Ich will frei leben“, ruft Michel Friedman in den Saal, „ich will dieses Wunderbare, die Würde des Menschen und die Menschenrechte, ich will diese wunderbaren Gedanken nicht verschwinden sehen.“ Deshalb rollt er unermüdlich wie Sisyphos den Stein immer wieder den Berg hinauf. Was, wenn die Gleichgültigen ihm dabei zur Hand gehen würden? Vielleicht fände das ewige Abwärts ein Ende. Der tosende Beifall macht Mut.

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