Vor hundert Jahren ist die Operndiva Anna Sutter in Stuttgart erschossen worden. Ein Mord im Liebeswahn.

Stuttgart - Später Vormittag, es klingelt. Viel zu früh für jemanden, der am Abend auf großer Bühne gestanden und sich für die Nacht einen Liebhaber ins Bett geholt hat. Zu früh für ungebetene Gäste. Zu früh für eine Auseinandersetzung um verschmähte Liebe. Bei weitem zu früh für eine Aufführung ungeahnten Ausmaßes, die sich vor der Schlafzimmertür mit wohlbekannter Stimme ankündigt. Man schreibt den 29. Juni 1910. Was sich an diesem Tag in der Schubartstraße 8 in Stuttgart abspielt, ist eine Operntragödie, die zu ihrer Zeit ungeheueres Aufsehen erregt hat und die Menschen noch immer beschäftigt. Die Sutter tot. Erschossen vom Hofkapellmeister Obrist, der ihr in den Tod folgt.

Das Leben und Sterben der Opernsängerin Anna Sutter ist bis heute ein Faszinosum geblieben, ihr Name hat sich ins kollektive Bewusstsein Stuttgarts eingebrannt. In der schweizerischen Provinz geboren, wurde sie 1892 auf Empfehlung eines Musikagenten zu einem Gastspiel eingeladen, ihrem ersten Auftritt in Stuttgart am damaligen königlichen Hoftheater. Dort empfahl sich die 21-Jährige nicht zuletzt auch durch ihr "ausnehmend komödiantisches Wesen", wie ein Kritiker schrieb, für weitere Engagements und wurde schnell zum gefeierten Publikumsliebling. In ihrer Paraderolle als glutvolle Carmen sowieso, aber auch als laszive Salome und in anderen Rollen, die sie mit damals ungewohntem Körpereinsatz auf die Bühne brachte.

"Sie hatte ungeheure Ausstrahlung, enormes Schauspieltalent und eine große Bühnenpräsenz", sagt der Stuttgarter Musikwissenschaftler und Anna-Sutter-Experte Georg Günther. Und sie hat auf die Konventionen ihrer Zeit gepfiffen, wofür sie von ihrem Publikum umso mehr geliebt wurde. In die Operngeschichte eingegangen ist etwa ihr Tanz der sieben Schleier aus Richard Strauss' Salome, einer Darbietung in knappem Kostüm und voll knisternder Erotik, bei der sich die Sängerinnen damals doubeln ließen. Anna Sutter tanzte als eine der ersten selbst.

Hohe Schulden, wechselnde Affären


Ihren Ruf als Femme fatale verdankt die Operndiva dennoch weniger diesen expressiven Auftritten als der Art und Weise, wie sie auf der Bühne des wirklichen Lebens agierte - so, wie es ihr gerade gefiel. Sie war berühmt für ihren opulenten Lebensstil, begleitet von Geldproblemen und hohe Schulden, die sie ihren vielen Gläubigern hinterließ. Und sie war berüchtigt für ihre wechselnden Liebesaffären, die zu zwei unehelichen Kindern von verschiedenen Vätern führten: Tilda und Felix. Ein Skandal nicht nur im streng protestantisch-pietistischen Schwabenland, doch die freizügige Sopranistin sang sich trotz ihres höchst unbürgerlichen Lebenswandels mitten in die Herzen der Menschen - vielleicht auch gerade deshalb.

Unter ihren Liebhabern waren auffallend häufig Hofkapellmeister und andere hochrangige Musiker. So auch der schwerblütige Aloys Obrist, der "eine bedeutende Rolle in der Musikgeschichte hätte spielen können", glaubt Georg Günther, der das Leben Anna Sutters in zweijähriger Recherchearbeit zusammengetragen hat. Aus den vielen Fotos, die sich im Familiennachlass fanden, machte er vor Jahren eine Ausstellung, die zum hundertsten Todestag diesen Herbst im Hauptstaatsarchiv wieder gezeigt wird. Das Erstaunliche an den Affären sei, sagt Günther, dass mehr als einmal der abgelegte Liebhaber das Hoftheater vorzeitig verlassen musste, weil er sich zu eng mit der Diva eingelassen hatte. "Üblich wäre gewesen, die Frau zu entlassen, zumal die Männer in höherer Stellung waren. Dass dies bei Anna Sutter wiederholt nicht getan wurde, ist sehr ungewöhnlich."