Kitzelnde Haare und lauwarmer Wind: Im Haus der Kunst in München taucht man körperlich in Kunst ein – was nicht nur angenehm ist.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Lässt man sich so schnell ins Bockshorn jagen? Dabei ist das Setting so klar wie schlicht und steht man doch nur vor einem begehbarer Würfel aus Holz, Glas, Spiegeln und Licht. Aber kaum wagt man sich in diesen leuchtenden Quader hinein, will einen die Angst im Nacken packen. Denn unter den Füßen scheint es in unendliche Tiefen zu gehen – und wie in bösen Träumen fühlt man sich plötzlich verloren in fremden Sphären jenseits von Raum und Zeit.

 

Nichts als Physik

Der Mensch ist ein empfindsames Wesen. Das wird einem unmittelbar bewusst, wenn man durch eine ungewöhnliche Ausstellung im Haus der Kunst in München geht, die genau das will: uns bei den Emotionen packen und unseren Körper unmittelbar einbeziehen. Statt Bilder an der Wand mit gebotenem Abstand zu betrachten, betritt man hier einen dunklen Raum – und wird prompt durchgepustet vom Wind wie auf hoher See. Dieses Gebläse in der Finsternis ist höchst unangenehm, dabei ist es simple Physik und nicht mehr als Luft, die von Ventilatoren in Bewegung versetzt wird.

Es ist, als würde man durch menschliche Gedärme laufen

„In anderen Räumen“ nennt sich die Ausstellung im Haus der Kunst in München, das geradezu prädestiniert zu sein scheint für diese „Environments“, also begehbare Installationen. Der angeberische Nazi-Bau ist so groß, dass hier sogar das riesige Schlauchsystem von Aleksandra Kasuba lässig Platz findet. Die Künstlerin aus Litauen präsentierte 1975 erstmals in einem Museum in San Francisco dieses begehbare Etwas aus weißem Stoff, das beim Durchwandern Assoziationen an die menschlichen Gedärme weckt oder auch an Wurzelwerk. Die Beleuchtung in wechselnden Farben will das Publikum dabei in verschiedene Stimmungen versetzen.

Durch einen aufgeblasenen Schlauch laufen

Schon Ende der 1950er Jahre begannen Künstlerinnen, sich mit Kunst zu befassen, die das Publikum auch körperlich einbindet. Lea Lublin, eine argentinisch-französische Künstlerin, malte zunächst, war aber enttäuscht, wie wenig man politisch mit Gemälden ausrichten kann. Also baute sie fortan große Environments und Installationen – und presst sich das Publikum nun durch einen schmalen Spalt in eine lange, begehbare Wurst, die mit Luft aufgeblasen wird.

Vor fünfzig Jahren wird es ein neuartiges Erlebnis gewesen sein

Drei Jahre hat das Haus der Kunst die Ausstellung vorbereitet und Environments von Künstlerinnen aus aller Welt rekonstruiert, die längst zerlegt, zerstört oder eingemottet waren. Heute ist man von Freizeitparks, Jahrmärkten und durch virtuelle Welten Spektakuläres gewohnt, für das damalige Kunstpublikum muss es aber eine tolle Erfahrung gewesen sein, erstmals solch eigenwillige Erlebnisräume durchschreiten zu können und völlig neue, verrückte Dinge auszuprobieren.

Denn es war schon kurios, was sich diese Künstlerinnen einfallen ließen. Der Mensch verbringe die Hälfte seines Lebens auf Matratzen, meinte etwa Marta Minujín und beschloss, für das Kunstpublikum ein Matratzenerlebnis zu inszenieren. So baute sie 1964 aus Kunstschaum und Stoffen ein fröhlich-buntes Etwas zwischen Höhle, Hütte und Hüpfburg, das sie mit fluoreszierenden Farben bemalte. Zwischen Kissen und anderen Weichteilen kann man es sich jetzt bequem machen zu Songs von den Beatles.

Bewusst erleben

„Man darf das Unbekannte nicht zufällig betreten“, meinte Aleksandra Kasuba, „man muss sich bewusst sein, dass man einen entscheidenden Schritt macht.“ Das ist der Unterschied zwischen Freizeitpark und künstlerischem Environment, dass es hier nie allein um das Erleben geht, sondern auch um einen Hintersinn. So wollte Tania Mouraud das Publikum mit ambivalenten Gefühlen konfrontieren in ihrem Raum „We used to know“. Hinter einer Glastür steht ein metallener Monolith, der an einen Altar erinnert. Tritt man ein, wird man zunächst von wohliger Wärme umfangen, die allerdings schon bald bedrückend wird, als würde die Luft zunehmend dünner. Auch die minimalistischen Klänge changieren zwischen magisch und penetrant.

Die Haare kitzeln unangenehm

Deutlich unangenehm wird es schließlich im Geburtskanal von Lygia Clark. Die brasilianische Künstlerin wollte das unbewusste Körpergedächtnis herauskitzeln und schleust das Publikum hierzu durch finstere Enge, in der der Boden nachgibt oder man durch ein Bällebad steigen muss und schließlich von herab hängenden Haare gekitzelt und gestreichelt wird. Schön ist das nicht.

So einfach diese Arrangements auf den ersten Blick anmuten mögen, wer sich einlässt, findet die Antworten auf die künstlerischen Ideen oftmals in sich selbst und den Gefühlen, die evoziert werden. Zum Abschluss hat man sich Erholung verdient in einer Art schwereloser Freiheit, die Judy Chicago gewährt in einem gleißend weißen Raum ohne Ecken und Konturen. Der Boden ist mit einem Meer aus Federn übersät, sodass man ahnt, wie hell und leicht das Nichts ist.

Gefühle im Nazi-Bau

Gebäude
Das monumentale, 1937 eröffnete „Haus der deutschen Kunst“ war der zentrale Ausstellungsort der „neuen deutschen Kunst“, auf die die Nationalsozialisten hofften und die das Nationalgefühl stärken sollte. Allein das neue grafische Konzept des neuen Direktors Andrea Lissoni des Haus der Kunst lässt nichts mehr von diesem Geist spüren, sondern gibt sich betont international und modern.

Ausstellung
Die Ausstellung „In anderen Räumen“ zeigt Environments von 1956 bis 1976 und läuft bis 10. März 2024 (geöffnet täglich außer Dienstag 10 bis 20 Uhr, Donnerstag bis 22 Uhr). adr