Mundartforschung „Der Dialekt kann alles“

Schwäbische Maßarbeit. Foto: Peter Ruge

Sprachforscher Hubert Klausmann preist die Vielfalt der Mundarten und kämpft gegen das Vorurteil von der angeblich überlegenen Standardsprache. Sein „Kleiner Sprachatlas von Baden-Württemberg“ schließt Wissenslücken.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Zum 1. April scheidet Hubert Klausmann (65) als Wissenschaftlicher Leiter der Tübinger Arbeitsstelle „Sprache in Südwestdeutschland“ aus. Eine wichtige Stimme in der Dialektforschung. Davon zeugen sein neuer populärwissenschaftlicher Sprachatlas von Baden-Württemberg und ein Hörbuch mit historischen Aufnahmen. Im Interview wendet er sich gegen gängige Klischees.

 

Herr Professor Klausmann, Sie haben die Welt der hiesigen Dialekte vermessen und einen Sprachatlas daraus gemacht. Was ist das Neue daran?

Zum ersten Mal gibt es ein Gesamtbild der Sprachlandschaft Baden-Württembergs. Vor 40 Jahren ist in Freiburg der südwestdeutsche Sprachatlas erstellt worden mit Interviews aus der damaligen Zeit. Nördlich der Linie Karlsruhe-Stuttgart-Ulm gab es nichts Vergleichbares. Wir hatten gravierende Wissenslücken. Dank eines Forschungsauftrags der Landesregierung konnten meine Mitarbeiter und ich drei Jahre lang den Norden erforschen. In der Folge sind Online-Sprachatlanten entstanden. Jetzt haben wir die Ergebnisse aus dem Süden und dem Norden zum Kleinen Sprachatlas von Baden-Württemberg zusammengeführt.

Das klingt wie nach einer Expedition. Auf was sind Sie gestoßen?

Im Nordosten von Baden-Württemberg, wo Fränkisch gesprochen wird, gibt es Lautungen und grammatikalische Besonderheiten das haut einen um. Bei manchen Infinitiven wird einfach die Endung weggelassen. Statt „ich möchte essen“ sagt man „ich möcht ess“. Statt „ich schlafe“ oder „i schlof“ heißt es: „I schlaf“. Das lange „a“ wird dabei als kurzer Vokal gesprochen. So etwas hab ich noch nie gehört. Wörter wie „Manne“ und „Kötze“ für einen Holzkorb waren mir genauso unbekannt wie „Benk“ für die Bank und „Wend“ für die Wand. Das zeigt: Wir sind dort in einer völlig anderen Dialektlandschaft unterwegs.

Wie sind Sie vorgegangen?

Wir haben vorab Termine mit Dialektsprechern vereinbart. Alle waren sehr erfreut, dass wir uns für die Mundart interessieren und haben uns kräftig unterstützt. Auch die Gemeinden. Wir haben uns dabei auf die alte Mundart konzentriert, die Grundmundart. Die muss man nämlich kennen, um die heute Alltagssprache zu ergründen. Man kann auch nicht den zweiten Stock vor dem ersten bauen.

Stirbt der Dialekt aus?

Viele Leute meinen, dass es keinen Dialekt mehr gibt, weil sie Dialekt an der Sprache ihrer Großeltern festmachen. Die Großeltern haben aber auch nicht wie ihre Großeltern gesprochen. Sprache ändert sich immer. Klar ist, dass lokale Besonderheiten wegfallen. Das heißt aber nicht, dass der Dialekt insgesamt stirbt. Es gibt heute dialektfreie Zonen, und es gibt Gebiete, in denen über mehrere Ortschaften hinweg eine Art Regiolekt gesprochen wird. Es existieren aber auch noch viele Ortsdialekte. Und die erweisen sich als sehr stabil, etwa auf der Ostalb, wo ich lange gewohnt habe, oder in Weingegenden, wo die Zusammensetzung der Bevölkerung sehr stabil ist.

Ist Stuttgart eine dialektfreie Zone?

Statistisch gesehen, ja. Aber erstaunlicherweise konnten wir auch hier Dialekt-Aufnahmen machen. Das wäre in Freiburg schwerer gewesen, da sind die Einheimischen heute eine kleine Minderheit.

Immer wieder wird behauptet, der Dialekt sei gegenüber der Standardsprache minderwertig. Ist das so?

Es gibt ein schlagendes Argument dagegen: das ist die Schweiz. Dort zeigt sich, dass der Dialekt alles kann und überall seine Berechtigung hat, sogar in der Wissenschaft. In Süddeutschland ist das anders. Da wählen wir je nach Thema und Gesprächspartner eine andere Sprachebene. Wir meinen immer, Sprache müsse homogen und angepasst sein. Das halte ich für falsch, und da mache ich den Schulen einen großen Vorwurf. Dort wird nicht geübt, dass der Andere anders spricht. Der Andere spricht bei uns immer falsch.

Woher kommt der Wunsch nach Angepasstheit und nach Homogenisierung?

Schwer zu sagen. Im Gegensatz etwa zu Norwegen, wo es eine große Akzeptanz für Andersartigkeit gibt, herrscht bei uns ein starkes Normenbewusstsein. Das zeigt sich auch am Erfolg von so unsinnigen Sprachlehrbüchern, wie „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“. Darin wird alles lächerlich gemacht, was nicht der Norm entspricht. Wir haben da ein Mentalitätsproblem.

Sie fordern mehr Vielfalt?

Eindeutig ja. Vielfalt gibt es ja auch in der Standardsprache. In Süddeutschland versuchen wir immer, uns an den Norden anzupassen. Selbst die Bayern tun das.

Ministerpräsident Kretschmann hat eine Dialektoffensive gestartet, ebenso Abgeordnete und Kultusministerin Eisenmann. Was hat das gebracht?

Die Dialektoffensive ist großartig, auch wenn sie durch Corona leider unterbrochen worden ist. Sehr erfreulich ist, dass das Land jetzt signalisiert hat, meine Forschungsstelle erhalten zu wollen und damit auch die Stellen meiner Mitarbeiter. Das würde nach meiner Pensionierung sonst einfach auslaufen.

Wo sehen Sie noch Forschungsbedarf?

Das von mir geleitete Arno-Ruoff-Archiv beherbergt eine Mundart-Sammlung von rund 2000 Aufnahmen von Dialektsprechern aus den 1950er und 1960er Jahren. Mit Unterstützung des Ministeriums für den Ländlichen Raum hat meine Kollegin Mirjam Nast daraus jetzt ein Hörbuch zusammengestellt – ein kleiner Ausschnitt aus einem riesigen Fundus. Die Erzählungen sind nicht nur sprachlich interessant, sondern auch inhaltlich. Sie sind ein Stück Kulturgeschichte der vergangenen 100 Jahre. Das muss noch besser ausgewertet werden. Eine Idee ist auch, die Töne in Museen zu bringen – etwa in Freilandmuseen. Besucher hätten dann einen unmittelbaren Eindruck vom damaligen Leben.

Was fasziniert Sie so am Dialekt?

Mich fasziniert, wie Sprache sich entwickelt und reagiert. Ein Beispiel: Im Ostschwäbischen fallen mancherorts „blind“ und „blöd“ lautlich zusammen. Beides heißt dort „bled“. Die Leute fangen dann an, eines der beiden Wörter wieder zurückzubilden, weil sie inhaltlich zu nahe beieinander sind. Ich finde es toll, Gesetzmäßigkeiten zu finden und dann immer wieder von Ausnahmen überrascht zu werden. Mundart ist ein sehr komplexes Gebilde und nicht irgendein Deppensprache. Die Reduzierung des Dialekts auf Klamauk wird ihm in keiner Weise gerecht.

Zur Person: Hubert Klausmann wurde 1955 in Freiburg im Breisgau geboren und hat an der dortigen Universität seine Dissertation über die „Breisgauer Mundarten“ geschrieben. Er lehrte als Deutsch- und Französisch-Lehrer am Peutinger-Gymnasium in Ellwangen und war gleichzeitig Mitarbeiter am „Vorarlberger Sprachatlas“. Über die Universität Bayreuth, wo er sich im Jahr 2000 habilitierte, kam er 2009 nach Tübingen, wo er den „Sprachatlas von Nord Baden-Württemberg“ entwickelte. Seit 2015 leitet er am Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen die von seinem Vorgänger Arno Ruoff geschaffene Arbeitsstelle „Sprache in Südwestdeutschland“. Sein „Kleiner Sprachatlas für Baden-Württemberg“ ist im Verlag Regionalkultur erschienen. Ebenso das Hörbuch „Jetzt isch halt alles anderscht, net?“ mit Aufnahmen aus dem Arno-Ruoff-Archiv.

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