Regie und Darsteller sind das große Kapital des brandneuen Musicals „Rebecca“. An der Musik allerdings scheiden sich die Geister.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Manchmal ist es gut, wenn man gar nicht so genaue Erwartungen an einen Musicalabend hat. Denn normalerweise sind in diesem Geschäft die ganz festen Erwartungen des Publikums ja das größte Kapital: bei „Mamma mia“ gibt es Musik von Abba, bei „New York“ von Udo Jürgens, beim „König der Löwen“ stolzieren die Tänzer wie Giraffen, und bei „Tarzan“ fliegen sie an Lianen durchs Haus.

 

Bei „Rebecca“, der neuen Produktion im Stuttgarter SI-Zentrum, sind die Erwartungen notgedrungen diffuser. Sicher, da gibt es einen Schauerroman von Daphne du Maurier und eine höchst stimmungsvolle Verfilmung von Alfred Hitchcock vor Dutzenden von Jahren. Aber was bedeutet das jetzt für eine Musicalversion des Stoffes? Nichts Genaues weiß man hier.

Die Produktion tappt nicht in die Kolportagefalle

So lassen wir uns relativ erlebnisoffen in die kuscheligen Sessel des Palladium Theaters fallen – um nach nicht mal zwanzig Minuten erstaunt festzustellen: Holla! Das ist ja eine wirklich stimmig und höchst abwechslungsreich erzählte Gesichte, die daher wirklich zu interessieren vermag. Eine junge, naive Frau lässt sich in Monte Carlo von einem reichen Engländer und vom Fleck weg heiraten – und sieht sich kurz darauf im düsteren Landsitz Manderley in Cornwall mit dem Schatten ihrer Vorgängerin konfrontiert, der erst unlängst tödlich im Meer versunkenen Rebecca. Das klingt zwar nach Kolportage, aber in diese Falle tappt die Produktion keineswegs.

Am derart gelungenen Teil des Abends hat vor allem eine Frau maßgeblichen Anteil: Die amerikanische Regisseurin Francesca Zambello weiß, was eine gute Inszenierung ausmacht. Sie ist auf den großen Opernbühnen dieser Welt ebenso tätig wie bei den Shows am Broadway und im West End. Für die Bregenzer Festspiele hat sie 2003 eine formidable „West Side Story“ auf die Seebühne gebracht. Sie versteht auch ein Musical stets als das, was dieses im allerbesten Fall sein kann: nicht als Nummernrevue, sondern als Musiktheater. Und mit diesem Anspruch und dem nötigen Respekt holt Zambello aus „Rebecca“ das Beste heraus. Interessante Figuren erleben eine spannende, abgründige Geschichte.

Tolle Eindrücke mittels Licht- und Videospiel

Wunderbar, wie hier die Musicalsänger zunächst mal Darsteller sind, wie ihr schauspielerisches Potenzial gefordert ist, wie die Charaktere dadurch lebendig werden, psychologische Konturen bekommen. Wunderbar, wie die Bühne sich stets wandelt, wie die Auftritte von Ensemble und Hauptrollen ineinanderfließen, wie mittels Licht- und Videospiel tolle Eindrücke erzielt werden – und die Regie doch jederzeit die Schalter dieser Musicalmaschine, die ja bekanntlich allzu leicht zum Selbstzweck wird, unter Kontrolle behält.

Recht gleichtönende Harmoniewelt

Aber ein Musical ist eben nicht nur Geschichte, sondern auch . . . Musik. Und so angenehm satt und elegisch die musikalische Welt von Michael Kunze (Buch) und Sylvester Levay (Musik) im ersten Teil auch anhebt – über die Gesamtstrecke ist ihre Harmoniewelt doch recht gleichtönend geraten. Es ist fast immer die große Ballade, die hier angestimmt wird, ein mehliges Moll, die weit ausladende Geste, das ultimativ große Gefühl.

Schon kurz nach dem ersten Kennenlernen singen die junge Heldin und ihr Maxim de Winter ein Liebeslied, als sei’s das Finale einer ganzen Oper. Da kann sich der Dirigent Klaus Wilhelm mit seinem Orchester noch so sehr um Zurückhaltung und Akzentuierung bemühen – die Klänge befüllen das Parkett so fett wie zum Christfest der Plumpudding den kleinen Lord. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Plumpudding kann sehr lecker sein, und auch bei „Rebecca“ klingt vieles schlicht: schön. Aber im Verlauf des Abends klingt auch vieles irgendwie: ähnlich. Sicher, ein, zwei lustige Nummern gibt es auch hier. Die Schöpfer des Werkes haben die Gefahr allzu großer Gleichförmigkeit selbst bemerkt. Aber der muntere Auftritt der „lieben Verwandten“ oder eine Ballszene der gängigen Sorte wirken hier eher wie ein fehlgeleiteter saurer Drop inmitten der Mintsauce voller Emotionen, womit wir dann aber auch alle Vergleiche mit englischer Kochkunst hinter uns lassen wollen.

Die böse Haushälterin hat alles unter Kontrolle

Dass es trotz solcher Einwände ein stimmungsvoller Abend wird, – doch, doch, wird es! –, hat das Publikum neben der Regisseurin einem äußerst stimmigen Ensemble zu danken – und natürlich den drei exquisiten Hauptdarstellern: Lucy Scherer als junge Heldin, die sich vom Engel zur höchst energischen Gattin entwickelt, bezaubert mit Charme und schöner klarer Stimme. Thomas Borchert hat exakt das richtige Format, um den vielfach gebrochenen Charakter des Maxim de Winter zu verkörpern. Und in ihrer Mitte glänzt Pia Douwes, die mit der „Rebecca“-Premiere ihr 25-Jahr-Bühnenjubiläum feiert, als gruselige Haushälterin Danvers. Ihr mit einigen Schärfen versehener Gesang sitzt hier passgenau, ihr darstellerisches Talent ist nicht hoch genug zu preisen. Eine klitzekleine Geste, ein schneller, scharfer Blick – schon hat sie alles unter Kontrolle.

By the way: ein guter Plumpudding ist laut Lexikon ein Jahr haltbar! Der Engländer kredenzt ihn mit Brandy. Und solch ein Verdauungsschnaps dürfte hernach auch vielen „Rebecca“-Zuschauern guttun. Ups!