Hans-Christoph Rademann reformiert die Ensembles der Bachakademie und startet mit einer fein ausgehörten „Marienvesper“ von Claudio Monteverdi in der Stuttgarter Liederhalle.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Getarnte Leibeigenschaft und korruptes Mäzenatentum: was man für zentraleuropäische Verfallserscheinungen im Fußballgeschäft des 21. Jahrhunderts halten könnte, war, als die Oper durch Claudio Monteverdi miterfunden wurde („L’Orfeo“ datiert auf das Jahr 1608), schon alltägliche Praxis in Mantua, Venedig und Rom. Drei Jahre zuvor, 1605, hatte Paul V., ehemals Inquisitor, als Gegenreformator den Papstthron erklommen, ein überaus bornierter Mann. Da ihm Monteverdi die „Marienvesper“ („Vespro della Beata Vergine“ ) von 1610 widmete, mit der am Freitagabend das Musikfest Stuttgart in der Liederhalle eröffnet wurde, und das Fest das Thema „Reichtum“ zentral verhandelt, lohnt ein genauerer Blick.

 

Denn reich war Paul V., geboren als Camillo Borghese, allemal, und als er starb, hatte seine Familie, für die er beharrlich nebengeschäftlich sorgte, mit den ehemals noch wohlhabenderen Orsinis und Colonnas in der Stadt gleichgezogen. Wer heute die Villa Borghese besucht, vor der Fassade des Petersdoms steht, die Paul V. errichten ließ, oder womöglich Geld im Vatikan abhebt, mag sich daran erinnern. Die Banco di Spirito Santo, ebenfalls von Paul V. gegründet, war das erste Geldinstitut des Kirchenstaats.

Geistliche Vesper und weltliches Repräsentationsstück

Auf diesen Papst jedenfalls setzte Monteverdi vorübergehend in einem Anfall aus Verzweiflung (Frau, Tochter und Mündel waren hintereinander weggestorben, das Abhängigkeitsverhältnis zu den Gonzagas, seinen Arbeitgebern in Mantua, entwürdigend) und Kalkül. Aber aus der anvisierten Stelle in Rom wurde nichts, und erst ein Zufall brachte eine Wendung.

Man sieht da im Übrigen, es ist alles schon mal da gewesen: Monteverdis Dienstherren mussten einen Erben installieren, Francesco Gonzaga, der sich als Sparkommissar zuerst die Kunst vornahm und Monteverdi und dessen Bruder entließ. Was nach freiem Fall ausschaute, entpuppt sich 1613 als historisches Glück. Monteverdi gewinnt das Probevorspiel für die vakante Kapellmeisterstelle im venezianischen Markusdom, unter anderem mit der „Marienvesper“ im Gepäck, die vom kompletten Titel her für zweierlei taugt: zur geistlichen Vesper und zur weltlichen Repräsentation am Hof. Beides ist möglich, reine Männerbesetzung mit Antiphonen, also Wechselgesängen, wie auch die Beteiligung weiblicher Virtuosinnen.

Davon hat die Stuttgarter Monteverdi-Aufführung der neu formierten Gaechinger Cantoreyso einige: allen voran Friederike Otto, Anna Schall und Julia Fritz mit den trompetenähnlichen Zinken, manchmal so unfassbar weich in der Artikulation, dass es nicht wundert, wenn am Ende der Spiritus Rector, Hans-Christoph Rademann, die drei mit scheint’s besonderer Verve zum Aufstehen beim großen Schlussapplaus bewegt. Wer der Originalklangrede, die von nun an allein das Ensemblerepertoire der Bachakademie prägen wird, womöglich ein wenig distanziert gegenüber gestanden haben mag, durfte sich allein durch diese drei Musikerinnen vollkommen beruhigen lassen: Buchstäblich mehr im Einklang (mit sich und der Musik) kann man schwerlich sein. Und so zeigte sich, Stück für Stück, diese „Marienvesper“ als überaus geeignet, ein Zeugnis davon zu geben, wie hoch konzentriert, vollkommen organisch, aber förmlich unangestrengt das Zusammenspiel der neuen Gaechinger bereits funktioniert.

Unter Konzertmeisterin Nadja Zwiener wird mit großer Akkuratesse gearbeitet

Das liegt unter anderem auch an der Intensität und Akkuratesse, mit der am Geigenpult von Nadja Zwiener und Liz Mac Carthy gearbeitet wird. An Zwieners Werdegang lässt sich erkennen, welchen Paradigmenwechsel Rademann bei der Bachakademie eingeläutet hat, denn spezialisierter als Zwiener kann man in der Alten Musik kaum sein: Nach der Schule in Berlin und dem Studium bei Eberhard Feltz wechselte sie nach London zu David Takeno. Direkt danach folgten Engagements bei den führenden Orchestern für Originalpraxis, in denen – ein schöner Nebeneffekt – der Frauenanteil seit je besonders hoch ist: Das waren The Orchestra Of The Age Of Enlightenment und die Akademie für Alte Musik in Berlin.

Von ihrer Konzertmeisterstelle bei The English Concert ist Nadja Zwiener nun nach Stuttgart gewechselt – und natürlich ist ein solcher Schritt mit hohen Erwartungen von beiden Seiten verbunden. „Wir wollen“, hatte Hans-Christoph Rademann vor dem Beginn des Festivals gesagt, „einfach gute Musik machen.“ Nun – kein Zweifel: das ist, im Falle von Monteverdi, ganz besonders gut gemachte Musik.

„Baut der Herr nicht das Haus, dann arbeiten umsonst, die daran bauen“, wie es bei Monteverdi im „Nisi dominus“ heißt, ist freilich, die theologische Bedeutung einmal hintangestellt, dabei eher nicht das Motto für die programmatische Ausrichtung aller Beteiligten. Rademann nämlich versteht sich, bei aller präzisen Zeichensetzung, dann doch mehr als Bestandteil einer Gruppe von Individualisten denn als alleiniger Gestalter. So ist es ein Häuslebau mit dem Dirigenten schon noch als Herr, vor allem aber als Helfer.

Man spürt das Suchende in allen

Und man spürt, bei immenser Güte des Solistenensembles, das Suchende in allen, weil das Forschen nach dem jeweiligen Klangideal idealerweise keiner direkten Vorgabe folgt, sondern immer ein Herantasten an Möglichkeiten ist. So fallen die Frage-und-Antwort-Momente im Konzert auf der in Kirchenfensterfarben weinrot und lila illuminierten Bühne – und davor und dahinter – manchmal vorerst ein bisschen blutleer aus und unterbrechen zumindest den ansonsten frei fließenden Rhythmus: Tempo, das dankenswerterweise nicht darauf aus ist, Geschwindigkeitsrekorde zu brechen.

Umgedreht werden Gipfel der Schönheit, der Zwiegesang von Dorothee Mields und Gerlinde Sämann in „Pulchra es“ zum Beispiel, nicht über Gebühr zelebriert. Falsche Feierlichkeit ist nie das Maß der Dinge für Rademann, der in Stuttgart am Anfang eines Weges steht, auf dem er bereits ein Riesenstück vorangekommen ist. Unter der Woche beim Musikfest, dann mit Bach, und am nächsten Wochenende, mit Händel, wird man hören, wie weit die neuen Ensembles dort, in der Interpretation geschlossenerer Formen, sind.

Im Übrigen gab es, neben vielen außerordentlichen Momenten, einen ganz besonderen Augenblick, in dem deutlich wurde, dass ein radikales Musizieren sogenannter Alter Musik die Pforten der Wahrnehmung wie Türen öffnet: das war, als zwischen Psalm 121 und 126 durch die drei fein austarierten Chorgruppen eine Raumwirkung erzielt wurde, die wie von selbst den Sinn stiftete zwischen dem, was der barocke Komponist Claudio Monteverdi im Klang angelegt hat, und dem, was der gleichzeitig keusche und sinnliche Zeitgenosse des zwanzigsten Jahrhunderts, der Venezianer Luigi Nono, später paraphrasierte. Minutenlang hörte man die Zukunft reden. Bezeichnenderweise war gerade („Nisi dominus aedificaverit domus“) vom Hausbau die Rede. Wohlan!