Bis zuletzt hat sich Amos Oz für die Aussöhnung mit den Palästinensern eingesetzt. Nun ist Israels wichtigster Schriftsteller mit 79 Jahren gestorben.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Was ist los in Israel? Niemand konnte darüber besser Auskunft geben als Amos Oz. Es ist eine der eindrücklichsten Szenen der neueren Weltliteratur, wie er in seinem autobiografischen Familienepos der „Geschichte von Liebe und Finsternis“ jene Nacht vom 30. November 1947, die Geburtsstunde Israels, beschreibt. Der kleine Amos wacht auf, weil gespenstische Ruhe in der Stadt herrscht: Die Abstimmung der UN-Vollversammlung über die Teilung Palästinas geht dem Ende entgegen. Als die Radiostimme mitteilt, der Vorschlag sei angenommen, ertönt aus der euphorisierten Menschenmenge ein Schrei – ein Schrei, wie Oz schreibt, „der Steine erschütterte und das Blut in den Adern gefrieren ließ, als hätte sich für alle bereits Getöteten und alle, die noch getötet werden würden, in diesem einen Augenblick ein Fenster zum Aufschreien geöffnet, das gleich wieder zuschlug“.

 

Dieser große Roman erzählt von den Abgründen, die Menschen trennen, von der schreienden Kluft zwischen Männern und Frauen, Eltern und Kindern, Arabern und Juden. Aber er schildert auch den Versuch eines Einzelnen, die Gräben zu überwinden. Aus vielen subjektiven Wahrheiten entsteht das differenzierte Porträt einer traurigen Ehe, die mit dem Selbstmord der Mutter endet – und das präzise Bild der konfliktreichen Gründung des Staates, dessen Schicksal für Oz bis zuletzt im Ungewissen blieb.

Als Gründungsmitglied der israelischen Friedenbewegung „Peace now“ bezieht der ehemalige Feldwebel der israelischen Armee Stellung gegen die Besatzungspolitik. Schon 1967, kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg, warnt er vor den Gefahren einer andauernden Besetzung der Palästinensergebiete. Dabei wächst der 1939 in Jerusalem geborene Autor nach eigenem Bekunden zunächst als „fanatischer, nationalistischer, begeisterter Zionist“ auf. In seiner Poetikdozentur, die er 2002 an der Uni Tübingen inne hat, stellt er sich scherzhaft als Fachmann für vergleichende Fanatismusforschung vor. Seine Erfahrungen auf diesem Gebiet lassen ihn freilich rasch zur Überzeugung gelangen, dass jeder unvollkommene Kompromiss dem unversöhnlichen „Zusammenprall von Recht mit Recht“ vorzuziehen sei. Aus dem prototypischen, im Kibbuz einen Traktor fahrenden Israeli wird ein Friedensaktivist, der als Schriftsteller zu Weltruhm gelangt.

Zwischen allen Fronten

Immer wieder thematisiert Amos Oz in seinen Werken die politischen Spannungen seiner Heimat. Sein letzter, 2014 erschienener Roman trägt den Titel „Judas“; er spielt kurz nach der Staatsgründung, in einer Zeit, in der die Menschen vom Krieg gezeichnet sind und überall Schuld und Verrat wittern. Im Mittelpunkt steht ein Wissenschaftler, der über Jesus und dessen Rezeption im Judentum forscht.

Sein Engagement und seine Überzeugungen als linker, säkularer Israeli bringen Amos Oz zwischen alle Fronten: für glühende Islamhasser ist er ein Judas, für rechte Zionisten ein Verräter, für fanatische Muslime und linksradikale Israelboykotteure ein Zionist. Er lässt sich davon in seinem Patriotismus nicht anfechten. „Ich liebe Israel, auch wenn ich es nicht aushalten kann.“

Mit Preisen überhäuft wurde er über die Jahrzehnte zum moralischen Aushängeschild eines Landes, dessen Zukunft für ihn nur in einer Zweistaatenlösung liegen konnte. In einem seiner letzten Interviews sagte Amos Oz, er wolle noch den Tag erleben, an dem er einen Spaziergang von der israelischen Botschaft zur palästinensischen Botschaft in der Hauptstadt beider Staaten, Jerusalem, machen könne. Diese Hoffnung blieb ihm versagt. Am Freitag ist der Schriftsteller und Essayist mit 79 Jahren in Tel Aviv gestorben. Welch bittere Ironie, dass im Jahr ohne Literaturnobelpreis neben Philip Roth nun ein zweiter der profiliertesten Kandidaten aus dem Leben geschieden ist!