Zum Tod des Performancekünstlers, Filmemachers, Dramatikers und Regisseurs Christoph Schlingensief.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)
Stuttgart/Berlin - Vielleicht werden die Menschen in ein paar hundert Jahren auf das zwanzigste Jahrhundert als jenes Säkulum zurückblicken, in dem die letzten Mauern eingerissen, die letzten Bastionen der bürgerlichen Hochkultur geschleift wurden. Zu dessen Beginn mit einem "Sacre du Printemps" die Ballettwelt in Aufruhr versetzt und mit einer "Lulu" der tradierte Opernkanon zerstört wurde. In dessen Mitte wild gewordene Langhaarige den Pop erfunden haben und die klassische Musik ins Mauerblümcheneck drängten. In dem Künstler Leinwände zerschnitten, mit Farbspritzern besprenkelten oder blau grundierten und dies als Kunst deklarierten. In dem Literaten ihre Protagonisten nicht mehr beiwohnen, sondern ficken ließen. Und in dem die jahrtausendealte werktreue Aufführungspraxis wie feuchter Kehricht die Bühnenrampen hinuntergefegt wurden.

Genialischer Künstler oder Selbstdarsteller


Vielleicht wird dann auch der Name Christoph Schlingensief fallen. Ob im Zusammenhang mit Theater-, Opern-, Film-, Vortrags- oder Performancekunst, wird sich eines Tages weisen. Ebenso wie die Frage beantwortet werden wird, ob er als genialischer Künstler oder als übermotivierter Selbstdarsteller, zynischer Nihilist, gnadenloser Zerstörer und unsensibler Tunichtgut im kollektiven kulturhistorischen Gedächtnis haften bleibt. Die Chancen, dass ersteres der Fall ist, stehen nicht schlecht, gesorgt dafür hat er in seinen letzten Lebensjahren selber: mit einer zuvor nicht gwekannten Ernsthaftigkeit, mit der er sich zuletzt seinen Sujets zuwandte, und mit der bemerkenswerten Wandlung seiner künstlerischen Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, die daraus resultierte.

Was von Schlingensief bleibt, ist auf jeden Fall ein opulentes Oeuvre, ein überquellender Ausstoß dieses rastlosen, ja doch: kunstbeseelten Tausendsassas. Der, während hier noch die Trümmer seiner Hinterlassenschaften rauchten, dort bereits das nächste Feuer legte. Als Scharlatan, Quälgeist, Wirrkopf, Störfall, Rabauken, Wüterich, Narziss oder Egomanen beschimpften ihn seine Kritiker lange Zeit, als "multimedial-infantilen Mist" bezeichnete etwa der Tenor Endrik Wottrich Schlingensiefs Bayreuther "Parsifal"-Inszenierung, in der Wottrich widerwillig die Titelpartie gesungen hat.

Enfant terrible und Workaholic


Auf jeden Fall war das Enfant terrible Schlingensief ein Workaholic. Schon als Gymnasiast hat der 1960 geborene Sohn eines Oberhausener Apothekers und einer Kinderkrankenschwester Spielfilme und Dokumentationen gedreht, in Studententagen als Kameraassistent gearbeitet und experimentelle Kurzfilme gedreht, Kurzgeschichten verfasst und die Band Vier Kaiserlein gegründet.

Er war Lehrbeauftragter für Film an der Hochschule für Gestaltung Offenbach und der Kunstakademie Düsseldorf, zwischenzeitlich fungierte er tatsächlich als erster Aufnahmeleiter bei der ARD-Dauerbrennerserie "Lindenstraße".