Für seinen Traum von einem demokratischen Südafrika ohne Rassentrennung hat Nelson Mandela einen hohen Preis bezahlt. Seinen Landsleuten war der Friedensnobelpreisträger und erste schwarze Präsident Südafrikas ein moralischer Kompass.

Johannesburg - Bei einem Spaziergang auf den Bahamas, so eine Lieblingsgeschichte Nelson Mandelas, sei er mal einem älteren Ehepaar begegnet. Während der Mann ihn sofort erkannte, wusste dessen Frau mit dem Entgegenkommenden nichts anzufangen und fragte ihren Gatten, wer dieser Herr denn sei. Als sie mit der nervös gestotterten Antwort nichts anzufangen wusste, wandte sie sich direkt an den Fremden: „Wofür sind Sie denn berühmt?“ Darauf, pflegte Mandela seinen Zuhörern lachend zu verstehen zu geben, habe er auch keine Antwort gewusst.

 

Ganz schön kokett? Auch. Aber tatsächlich hat Nelson Mandela nie seine Verwunderung darüber verloren, in welchem Maß er bereits zu Lebzeiten zum globalen Mythos und Weltsuperstar geworden ist. Wann immer er anlässlich eines Geburtstages, eines zu seinen Ehren veranstalteten Rockkonzertes oder eines Staatsbesuchs in fernen Landen mit nicht enden wollendem Applaus gefeiert wurde, war seinem verzückten Lächeln anzusehen, wie ihn der Jubel jedes Mal überrascht – als ob das alles gar nicht ihm, sondern einem hoch über ihm schwebendem Alter Ego gelte.

Mandelas Popularität war – vor allem in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens – nicht mehr zu überbieten: Das US-Magazin „Time“ kürte ihn zum „Mann des Jahrhunderts“, Staatsmänner, Königinnen und Popstars standen Schlange, um sich im Schatten der Ikone ablichten zu lassen, Sportler schauten stets nochmals bei Madiba (wie der Landesvater respektvoll unter seinem Clan-Namen genannt wurde) vorbei, bevor sie zu internationalen Wettkämpfen aufbrachen. Als ob sie sich von ihm magische Kräfte holen könnten.

Von einem König großgezogen

„Madiba Magic“ nennen die Südafrikaner das Phänomen: Mandelas Zauber, von dem selbst seine einstigen Feinde verhext wurden. Die Hasstiraden weißer Überheblichkeitsfanatiker auf den das Land angeblich in den Ruin treibenden „schwarzen“ Afrikanischen Nationalkongress (ANC) werden gewöhnlich nur von einer einschränkenden Bemerkung unterbrochen: „Nur der Mandela ist anders.“ Worauf diese Andersartigkeit beruht, beschäftigte bereits ganze Heerscharen von Biografen, die in diesem Zusammenhang auf die Herzlichkeit und persönliche Wärme des Idols zu verweisen pflegen. Der Mann mit dem strahlenden Lächeln, dem warmen Händedruck und dem obligatorischen „How are you“ wusste wie kein anderer bei wirklich jedem Gesprächspartner den Eindruck zu erwecken, ernst genommen werden. Mandela sei der „Inbegriff all jener Instinkte, die wir mit unserer Kindheit verbinden: Vertrauen, Gutherzigkeit und Optimismus“, meint der südafrikanische Autor Mark Gevisser: „Die Welt fühlt sich sicher bei ihm, denn in Mandela hat sie den idealen Vater gefunden.“

Diese Väterlichkeit musste sich Rolihlahla („der Unruhestifter“, wie ihn seine Eltern ursprünglich nannten) erst einmal erwerben: Als junger Mann war Nelson ein Feuerkopf und ziemlich arrogant. Nur die ihm eigene Würde, die ihn vor zahllosen Erniedrigungen in 27 Gefängnisjahren schützte, reicht zurück bis in die Kindheit: Denn der Unruhestifter wurde am 18. Juli 1918 in Mvezo, einem winzigen Dorf in der abgeschiedenen Transkei, als Häuptlingssohn geboren und nach dem frühen Tod seines Vaters von dessen Vetter, dem König der Tembu, in den Regenten-Kral geholt. „Mandelas Würde hatte nie etwas Aufgesetztes an sich“, meint der südafrikanische Publizist Allister Sparks: „Das hängt gewiss damit zusammen, dass er von einem König großgezogen wurde“. Bei ihrer ersten Begegnung auf der Gefängnisinsel Robben Island habe er ihn nicht als Häftling, sondern automatisch als Respektsperson angesprochen, erzählt Mandelas einstiger Aufseher James Gregory: „Es gibt Menschen, da kann man gar nicht anders.“

Ein Pazifist war Mandela nie


Der Häuptlingssohn brachte noch etwas anderes mit: einen kaum zu widerstehenden Charme. Mandela liebte Frauen und trainierte bereits als Junge im königlichen Kral, was später in der Politik eine seiner nützlichsten Eigenschaften werden sollte: die Kunst der Verführung. Kenner des südafrikanischen Transformationsprozesses sind davon überzeugt, dass die verängstigte weiße Minderheit niemals ihr Ja-Wort zur Abschaffung der Apartheid, dem Verlust ihrer Privilegien und dem Regenbogenstaat gegeben hätte, wäre sie nicht von Mandelas Charme überwältigt worden. „Nie wieder ist mir ein Mensch begegnet, der Charme, Standfestigkeit und Einfühlungsvermögen auf so überzeugende Weise verband“, sagt die Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer.

Schon vor seiner Verhaftung 1962 war Nelson Mandela einer der wichtigsten politischen Führer seines Landes: Als militanter Chef der Jugendliga des ANC steuerte der „Terrorist“ (Maggie Thatcher) die bis dahin eher behäbige Organisation des schwarzen Mittelstands in den bewaffneten Kampf und baute deren „Armee“, den „Speer der Nation“, auf – ein Pazifist war Mandela entgegen der landläufigen Auffassung nie. Das eigentliche, wirklich historische Verdienst des Befreiungsführers sollte aber erst in den Jahren nach dem 11. Februar 1990 wirksam werden, als der groß gewachsene Mann mit erhobener Faust an der Seite seiner Ex-Frau Winnie vor unzähligen Kameras aus aller Welt aus dem Victor Verster Gefängnis bei Kapstadt schritt – ein Auftritt, der in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Damals wusste keiner, was von dem in 27 Jahren der Versenkung gesichtslos gewordenen Helden zu erwarten war: Der um die Blüte seines Lebens gebrachte Ex-Gefangene hätte sehr wohl verbittert das kleine Pflänzchen zertreten können, das mit der späten Einsicht der weißen Minderheitsregierung damals endlich gepflanzt wurde.

Auch nach 27 Gefängnisjahren keine Verbitterung

Was jedoch in Wahrheit folgte, war das „Wunder vom Kap“. Statt die verängstigten Weißen in die Ecke zu drängen, suchte der ANC-Chef seine Kerkermeister für die Vision der Regenbogennation zu gewinnen: Er wusste, dass das Experiment des Multikultistaats nur unter Beteiligung der wirtschaftlich dominanten Minderheit gelingen konnte. Auf die Frage, warum er nach 27 Jahren der Erniedrigung weder Bitterkeit noch Rachegelüste empfunden habe, antwortete Mandela: „Verbitterung ist wie Gift trinken und erwarten, dass dein Feind davon stirbt.“ Die weißen Überheblichkeitsfanatiker hätten ihm alles genommen, führte Mandela gegenüber seinem Freund Bill Clinton weiter aus: „Die besten Jahre meines Lebens, meine Frau und meine Kinder. Das einzige, was sie mir nicht nehmen konnten, war mein Verstand und mein Herz. Hätte ich ihnen nicht vergeben, dann hätten sie auch das bekommen.“

Leiden könne bei einem Menschen zwei Dinge auslösen, sagt Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu: „Es kann einen verbittern, oder es brennt die verhärtende Schlacke ab. Es kann einen Menschen stark und gleichzeitig sanft und einfühlsam machen: So ist es zweifellos mit Nelson geschehen.“

Seine Einsicht, den Feind wenn auch nicht unbedingt lieben, so doch mindestens verstehen zu müssen, hatte sich bereits in den Gefängnisjahren angebahnt und war eher Kalkül als moralischen Grundsätzen zuzuschreiben. Aus purem Selbsterhaltungstrieb lernte Häftling Nummer 46664 Afrikaans, die Sprache der Gefängniswärter, und machte sich einige der Schließer zu regelrechten Vertrauten. Noch im Gefängnis begannen auch die ersten Gespräche mit höchsten Vertretern des Rassistenregimes, die Mandela ohne das Wissen selbst seiner besten Freunde führte: Er riskierte damit, von seiner eigenen Organisation als Verräter abgestempelt zu werden. Auch später stand Mandela, der durchaus autokratische Züge aufwies und ausgesprochen stur sein konnte, immer wieder mal allein auf weiter Flur: Etwa als er im zweiten Jahr seiner Regierungszeit beim Rugby-Weltcup mit aller Kraft die unter schwarzen Südafrikanern verhassten, fast ausschließlich weißen „Springböcke“ anfeuerte. Mandelas Kalkül ging auf, wie Clint-Eastwoods-Film „Invictus“ auf mitreißende Weise nachvollzog: Der Weltmeistertitel der Springböcke wurde zur Geburtsstunde der Regenbogennation, nur noch wenige ganz verbohrte Weiße sehnen sich heute in den Apartheidstaat zurück.

Unter Marketing-Experten gilt Mandela als perfekte Marke


Nach seinem Abgang als Präsident, den er für alle überraschend bereits nach der ersten Amtsperiode erklärte, wurde Mandela vollends in den Olymp der auf Erden wandelnden Götter erhoben. Seitdem galt der Elder Statesman als Personifizierung des sauberen Politikers und Inbegriff des progressiven Reformers, der das Gute im Menschen zur Entfaltung bringt. Ausgerechnet ein Sohn des afrikanischen Kummerkontinents wurde auf diese Weise zum humanistischen Schutzpatron des Guten in uns allen: der Macht der Versöhnung, dem Respekt vor den anderen, dem Fortschritt als dem Traum der Menschheit. Unter Marketing-Experten gilt Mandela als perfekte Marke: Sein Name wird im Bewusstsein der Menschen instinktiv mit einem ganzen Strauß positiver Werte wie Integrität, Großherzigkeit und Bescheidenheit verknüpft. „Mandela ist wie ein Coca-Cola-Emblem“, meint die Kapstädter Künstlerin Janet Wilson: „Er ist Teil unserer Alltags-Kultur geworden.“

Dem Agnostiker selbst war seine Heiligsprechung allerdings immer suspekt. „Mich beunruhigt der Eindruck, dass ich ein Halbgott sei“, klagte Mandela einst: „Ich will wie jeder andere Mensch behandelt werden – mit meinen Tugenden und Lastern.“ Wie Biograf David Smith in „Der junge Mandela“ beschreibt, war der schwer kontrollierbare Jurastudent und Jungpolitiker tatsächlich alles andere als tadellos: Er soll sogar seine erste Frau Evelyn verprügelt haben. Auch als Präsident war Mandela keineswegs makellos: Am verhängnisvollsten wirkte sich seine anfängliche Vernachlässigung der Aids-Pandemie aus. „Ich wollte die Wahlen gewinnen und habe deshalb nicht über Aids gesprochen“, bereute Mandela später das Versäumnis, das Tausende von Südafrikanern mit dem Leben bezahlten.

Wer kann Südafrika zusammenhalten?

Längst mussten sich die Menschen in Südafrika daran gewöhnen, ohne die Weisheit ihres Gründervaters auszukommen: Schon seit Jahren nahm der immer gebrechlicher werdende Madiba zu aktuellen Ereignissen keine Stellung mehr. Trotzdem ist der Johannesburger Publizist Mondli Makhanya davon überzeugt, dass Mandelas Tod die labile Nation noch zusätzlich belasten wird: „Es ist die Idee Nelson Mandela, die Südafrika verbindet. Jetzt fürchten wir uns alle vor der Frage, wer uns zusammen halten kann.“

Aus dieser Notlage hilft den Kapländern auch nicht, dass Mandela selbst seinem Tod schon lange mit jener Eigenschaft entgegen sah, für die er neben seinem Charme, der Würde und menschlichen Wärme noch berühmt war – sein Humor. Sollte er am Himmelstor abgewiesen werden, werde er einfach seinen ANC-Mitgliedsausweis vorzeigen, witzelte Mandela einst: Da kann man zu seinen Gunsten nur hoffen, dass es Petrus nicht wie der Frau auf den Bahamas geht.