Die Linde in Hollenbach ist mindestens 700 Jahre alt. Manche Fachleute gehen von 1000 Jahren aus. Den Dorfbewohnern ist sie heilig

Reportage: Robin Szuttor (szu)
Hollenbach - Auf einer Holzbank vor der Kirche. Ein Spätsommermorgen. Beharrlich weht der raue Hohenloher Wind durchs Laubwerk. Vogelstimmen mischen sich in das hypnotische Rauschen der Blätter. In solchen Momenten zieht einen die alte Linde mit hinüber in ihren Zeittakt. Auf der waldreichen Hochebene zwischen Jagst und Tauber, in einem Landstrich, wo die Kreisstadt weniger Einwohner als Degerloch hat, wo Milane über Spaziergängern kreisen, wo Handyempfang zur Glückssache wird, wo man "Gudde Morche" sagt und "Griawawerscht und sauri Bri" isst, wo Kinder "Gassaveichel" heißen, wo eine Frau mit wechselnden Partnern rasch den Ruf als "Schnalla" oder "Ripp" weg hat, wo das Klima streng und der Boden lehmhaltig ist: da liegt Hollenbach. Und in diesem 500-Seelen-Flecken, am Platz vor der Kirche, steht heute und stand schon vor Jahrhunderten eine Linde. Der älteste Baum im Land.

Sie ist keine Schönheit: seit jeher von gedrungener Gestalt, mit der Zeit immer mehr verwachsen. Die Rinde verkrustet und tief zerfurcht. Der knorrige Stamm mit Pusteln, Geschwülsten, Buckeln, Löchern übersät, innen fast völlig ausgehöhlt. Doch die Lebensader ist unberührt. Die Linde steht im Saft, blüht jeden Frühling in neuer Fülle, ihre Wurzeln drücken Jahr um Jahr größere Beulen in die Asphaltdecke des Kirchwegs. 700 Jahre dürfte sie mindestens hinter sich haben, manche sagen 1000.

Sanierung einer Linde


Was hat man nicht alles mit ihr angestellt: ihr das alte und kranke Holz wie Eiter ausgekratzt, sie aufgebohrt und mit Baumfutter gefüllt, Wundbalsam und Imprägniermittel aufgestrichen. Regenablaufrohre durch Zweige getrieben - eine Art Lindenkatheter. Ihr Gerippe mit Schrauben, Stahlseilen und Spanngurten fixiert. Die Hauptäste, die wie verknorpelte Tentakel nach außen greifen, liegen auf einem Holzgerüst. Dies wird von Steinpfeilern gestützt, auf denen die Namen der Kriegsgefallenen stehen. Man könnte sagen: die Hollenbacher tragen die Lindenlast.

1979 drohte der Baum auseinanderzubrechen. Die Leute im Dorf ließen alles stehen und liegen, leisteten zwei Tage lang Erste Hilfe. Wuchteten den klaffenden Riss zurück auf eine Breite von fünf Zentimetern. Zogen eine Schraube von Schmiedemeister Gebert ein, die seitdem Halt gibt. Ortsvorsteher Rudi Schlecht, 58, zeigt auf eine morsche Stelle an einem der Kardinaläste: "Das hier ist ein Schwachpunkt von ihr. Wir versuchen, sie so gut es geht zu entlasten." Vor Jahren brach ein Frontlader einen der ältesten Zweige ab, das Gleiche richtete ein Sattelschlepper auf der anderen Seite an. Beide Male musste per Notoperation amputiert werden.

Zweite Großrenovierung


Vor acht Jahren, bei der zweiten Großrenovierung, kappte ein Baumchirurg radikal die Krone. "Das sieht zwar nicht gut aus, aber es musste sein", sagt Rudi Schlecht. Inzwischen hat die Linde oben wieder junge Triebe ausgebildet, die ihr Gesamtbild einigermaßen abrunden. Zwei alte Leute an der Kirchenmauer. Seit zwanzig Minuten halten sie ein Vormittagsschwätzchen. Es geht um den Räuber, der vor kurzem eine Sparkasse im Fränkischen überfallen hat, mit der Polizei ein Katz-und-Maus-Spiel treiben wollte und schließlich auf der Reeperbahn gefasst wurde. Einer vom Dorf.

Gerhard Renner, grobe Strickjacke und betagte Cordhose, wurde vor 65 Jahren in Hollenbach geboren und ist dort geblieben, er wohnt gleich hinter der Kirche. Sein Vater war der Wagner im Ort. Er selbst hat ein bisschen Landwirtschaft gemacht, nie geheiratet. Elfriede Vogel, das weiße Haar offen, wallende Kleider und eine Halskette mit Schmuckstein, ging im Jahr 1942 als junges Mädchen weg vom Dorf und in die Lehr. Vor zehn Jahren kehrte sie zurück, weil sie hier mal sterben will.

Die Linde begleitete die Dorfbewohner durchs Leben


Als Säugling ist sie an der Linde vorbei zum Taufbecken getragen worden. Am ersten Schultag führte ihr Weg zur Linde. In den großen Pausen rannte sie immer mit ihren Freundinnen rüber zum Baum. Für sie ein Kletterbaum. "Wir Mädle haben uns mit den unteren Zweigen begnügt, die Buben sind hoch hinauf", sagt sie. "Wenn's nass war, war's gefährlich", sagt Gerhard Renner. Als Konfirmand zog er 1959 im dunklen Anzug unter Girlanden aus Immergrün an der Dorflinde vorbei. Gefeiert wurde daheim, ein Wirtshaus war zu teuer.

"Das ist nicht mehr die Linde meiner Kindheit", sagt Elfriede Vogel. Seit sich das Naturschutzamt um den Baum kümmere, werde er immer gröber gestutzt. Kein Vergleich zu früherer Pracht. Ihre Mutter sammelte die Lindenblüten immer körbeweise und machte Tee daraus. Der ist blutreinigend und soll gegen Fieber helfen.

Die Linde gehört zu den Hollenbachern. Seit eh und je. Unter ihr sangen die Burschen an den Sonntagabenden Volkslieder und gingen auf Brautschau. Sie war da, wenn die jungen Männer ihre Mädchen durchs Hochzeitsspalier an den Altar führten. Und sie war präsent, als die alten Frauen ihre Männer zu Grabe trugen - bis 1838 war der Friedhof am Kirchplatz. Nicht jeder Hollenbacher ging in Frieden. An der Linde, die seit frühester Zeit als Gerichtsstätte diente, spielten sich Dramen ab.

Vor der Linde wurde Geschichte geschrieben


Auch im Sommer 1702, als in ihrem Schatten Anna Miltenberger mit einem Schwert der Kopf abgetrennt wurde. Die Frau hatte, so besagt es die Gerichtsakte, "Unzucht" mit einem Philipp Defner sowie "unsittlich Händel" mit ihrem Stiefvater, dem Schuhmacher Hans Ehrlin, getrieben und war schwanger geworden. In ihrer Verzweiflung brachte sie das Neugeborene "mit einem mörderischen Griff und Druck am Schlaf" um. Man fand das Baby, taufte es kurz vor seinem Tod noch Maria. Anna Miltenberger wurde vor 1000 Leuten hingerichtet und "ihr Kopf acht Tage auf die Torspitze gestellt". Zwei kurze Leben.