Nach Ladenschluss in einer dunklen Buchhandlung kehren ihre Schatten zurück. Sie wollen nach dem Rechten sehen: Werden sie noch verlegt, kann man ihre Bücher noch kaufen? „Herr Fallada, sind Sie das?“ „Hallo, Herr Kästner!“ „Wie geht es Ihnen, Ina Seidel?“
Zu dem geisterhaften Stelldichein kommt es etwa in der Mitte von Dominik Grafs Dokumentarfilm „Jeder schreibt für sich allein“, einer kongenialen Umsetzung des gleichnamigen Buchs des Publizisten Anatol Regnier, das sich mit den deutschen Schriftstellern und Schriftstellerinnen auseinandersetzt, die während des Nationalsozialismus nicht ins Exil gegangen sind.
Wenige Szenen vorher ist man dem wie viele andere ins französische Sanary-sur-Mer emigrierten Klaus Mann begegnet, der in einem Brief die Zurückgebliebenen und Unentschiedenen mahnte: „Wenn einige Geister von Rang immer noch nicht wissen, wohin sie gehören – die da drüben wissen ganz genau, wer nicht zu ihnen gehört: der Geist.“
Geruch von Blut und Schande
Was also ist von jenen Geistern zu halten, welchen Anspruch auf Rang können sie noch erheben? Der christliche Dichter Jochen Klepper, der mit seiner jüdischen Frau 1942 in den Selbstmord getrieben wurde? Oder Will Vesper? Autor von Führer- und Blut-und-Boden-Gedichten, dessen lyrisches Werk später von seinem Sohn Bernward und der jungen Gudrun Ensslin in neuen Ausgaben zugänglich gemacht wurde – bevor Ensslin kurz darauf ihre revolutionäre Erweckung durch Andreas Baader erfuhr, und Bernward Vesper in seinem Roman „Die Reise“ endgültig mit der Generation der Väter abrechnete.
Wenn man das Ende kennt, ist es leicht, darauf zu antworten. Aber wie war es, wenn man nicht wie Walter Benjamins Engel der Geschichte der Vergangenheit zugewendet eine einzige Katastrophe sah, sondern noch glaubte eine Kette von Begebenheiten vor sich zu haben? Benjamin nahm sich 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten das Leben, im selben Jahr, in dem er die 9. seiner geschichtsphilosophischen Thesen formulierte, in der sich vor jenem Engel bereits die Trümmer der zukünftigen Vergangenheit türmen.
Anatol Regnier hat sich dieser Katastrophenlandschaft von der Seite derer angenähert, die vorgaben, ins Innere zu emigrieren, die hofften, wie Erich Kästner sich durchmogeln und -schweigen zu können, wenn sie sich nicht gleich skrupellos opportunistisch mit den Machthabern arrangierten. Er geht den Spuren jener nach, über deren in den tausend Jahren zwischen 1933 und 1945 gedruckte Bücher der Exilant Thomas Mann urteilte, sie gehörten alle eingestampft, weil ihnen der Geruch von Blut und Schande anhafte.
Es ist eine Gratwanderung durch das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte: Auf der einen Seite droht der Sturz in nachgeborene Selbstgerechtigkeit, zur anderen bewegen sich Versuche, das Handeln aus der Zeit zu verstehen, immer in gefährlicher Nähe zum Abgrund der Relativierung.
Zu Klängen „Lohengrins“ führt der Weg Anatol Regniers zunächst auf den Montsalvat literarischer Quellenkunde des Marbacher Literaturarchivs. Auch wenn man dort wohl weiß, wie man Texte zum Sprechen bringt, setzt der knapp drei Stunden lange Film in dieser Hinsicht Maßstäbe. Dem sammelnden Verfahren Regniers, den monolithischen Block des nationalsozialistischen Lebensthemas in eine Vielzahl von Biografien, Stimmen, Zeugnissen aufzusprengen, korrespondiert eine filmische Collagetechnik. Die Kombination unterschiedlichsten Materials, Bilder, Texte, Filmsequenzen etwa aus Dominik Grafs eigener Kästner-Adaption „Fabian“, die wechselseitige Erhellung von Erzählung, Kommentar, Zitat, Zeitzeugenbericht und Musik – all das ist einer avantgardistischen Ästhetik verpflichtet. Vieles erinnert an die Montagetechnik Alexander Kluges. Wo etwa die Guido-Knopp’schen NS-Historienspektakel auf Überwältigung zielen, geht es hier um Sensibilisierung, um die Zumutung von Ambivalenzerfahrungen.
Zumutung von Ambivalenz
Wie passen Gottfried Benns schäbige Loyalitätsadressen an das Regime mit den Abschiedsgedichten zusammen, die der Einsame hoffnungslos und voller Selbsthass kurz darauf auf die Rückseite von Speisekarten notierte? Warum bleibt Erich Kästner in einem Land, das die eigenen Bücher verbrennt? Was unterscheidet innere Emigration von Mitläufertum? Darauf antworten kontrovers die Journalistin Julia Voss, der Filmproduzent und Zeitzeuge Günter Rohrbach oder der Autor Florian Illies.
Regniers eigene Familiengeschichte ragt in mancher Hinsicht in die literarischen Kreise jener Zeit hinein. Seine Großmutter war mit dem Dramatiker Frank Wedekind verheiratet und unterhielt nach dessen Tod eine Beziehung zu Gottfried Benn. Die Recherchen, die Dominik Graf in diesem filmischen Vielansichtigkeitswunder aufblättert, stehen nicht im Dienst der Rehabilitation, sondern der Differenzierung und des Verstehens. Verschwimmende Grautöne statt Schwarz und Weiß.
Den Rahmen bilden die Rorschachtests, denen der amerikanische Psychologe Douglas M. Kelley führende Nazis während der Nürnberger Prozesse unterzog. Das Ergebnis war von schockierender Durchschnittlichkeit. Wie sicher kann man sich also selbst sein? Wozu wäre man fähig?
Im revolutionären Furor der RAF kehrte die Empathielosigkeit der Nazi-Väter wieder. Und heute? Vielleicht kommt es darauf an Ambivalenzen auszuhalten und keine neuen Reinheitsideologien zu bilden, auch wenn sie im Zeichen des guten Menschen stehen. Diese in einem abschließenden Voice-over auf den Tag gemünzte Lehre könnte man aus dem Film ziehen. Eine andere freilich wäre der Versuch, die Gegenwart von ihrem möglichen Ende her zu denken.
Info
Buch
Dem Film liegt das Sachbuch „Jeder schreibt für sich allein“ von Anatol Regnier zugrunde (C.H.Beck). Der Autor wurde 1945 als zweites Kind von Pamela Wedekind und Charles Regnier geboren. Auch seine Schauspieler-Eltern waren nach 1933 in Deutschland geblieben. Heute lebt Anatol Regnier in München und am Starnberger See.
Regisseur
Dominik Graf gehört zu den profiliertesten Regisseuren in Deutschland. Seit Mitte der 1970er Jahre dreht er erfolgreiche Filme, mehrmals wurde er mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er gilt als Regisseur, der auch im Fernsehen großes Kino macht.
Termin
Am Dienstag, 22. August, stellt Dominik Graf seinen Film im Atelier am Bollwerk um 19.30 Uhr vor.