Neuer Spielplan der WLB Mit Momo und Blues Brothers: Friedrich Schirmers letzte Saison

Finale mit Trio: die Intendanten Friedrich Schirmer (links) und Marcus Grube mit Laura Tetzlaff, der Leiterin der Jungen WLB. Foto: Roberto Bulgrin

Ein großer Theatermann nimmt Abschied mit seinem letzten Spielplan: Friedrich Schirmer ist noch ein Jahr lang Chef der Esslinger Landesbühne (WLB) an der Seite Marcus Grubes. Im neuen Programm führt das Intendantenduo Leitmotive weiter.

Leise Wehmut, stille Dramatik waren eher zu ahnen als zu spüren. Friedrich Schirmer, mit Marcus Grube Intendant der Esslinger Landesbühne (WLB), hat den letzten Spielplan seiner Karriere vorgestellt, den der WLB-Saison 2023/24. Der große Theatermann, dessen Weg von Esslingen über die großen Häuser in Freiburg und Stuttgart ans größte deutsche Schauspielhaus in Hamburg und wieder zurück nach Esslingen führte, geht im Sommer 2024 in den Ruhestand. Marcus Grube bleibt alleiniger WLB-Chef, seinen alten Kompagnon wird er ab und zu im Publikum sitzen, aber nicht auf der Matte stehen haben: Den Theaterberuf lasse er „mit Freude auf das Leben danach los“, versichert der 71-jährige Schirmer.

 

Doch ein Jahr lang gilt’s noch dem sprichwörtlichen Lappen, der hoch muss. Das geht er an der WLB mit einer typisch Schirmer-Grube’schen Ausgrabung: der Uraufführung „Der Unheimliche“ des deutsch-britischen Schriftstellers Robert Muller, bekannt vor allem als Drehbuchautor („Die Gentlemen bitten zur Kasse“). In dem autobiographisch inspirierten Stück von 1997 kehrt ein Emigrant jüdischer Abstammung nach 50 Jahren in seine Heimatstadt Hamburg zurück, wo ihn die Wiederkehr der verdrängten Nazi-Vergangenheit in die tiefste Lebenskrise stürzt: zu brisant offenbar fürs Hamburger Thalia Theater, das das Stück in Auftrag gegeben, aber nicht aufgeführt hatte.

Leid- und Leitmotive der kritisch zu betrachtenden deutschen Geschichte ziehen sich auch durch den neuen WLB-Spielplan. Etwa in „Heimatlos auf hoher See“ über die Odyssee des HAPAG-Dampfers „St.Louis“ mit jüdischen Emigranten an Bord, die weder in Kuba noch in den USA an Land gelassen wurden – bittere Bezüge zur Gegenwart liegen auf der Hand. Oder in „Berlin Alexanderplatz“, einem Seismogramm der späten Weimarer Republik mit bereits merklichem Hakenkreuz-Beben. Die Esslinger Theaterfassung überhebt sich nicht am überbordenden Großstadt-Roman, sondern hält sich an Döblins eigene Hörspielbearbeitung. Einen viel weiteren historischen Bogen seit den Bauernkriegen schlägt die „Proletenpassion“: Geschichte von unten im rebellischen Stil der 1970er-Jahre, neu abgeklopft auf ihre Gegenwartstauglichkeit. Und nicht nur dazu spielt die Musik (von der Polit-Rockband Schmetterlinge), sondern auch zur Parodie einer Parodie: „Blues Brothers“ wird zum theatralischen Roadmovie vo’ d’r Alb, zur „provinziellen Sehnsucht nach dem American Dream“ (Grube). Wie aber Dialekt in Dialektik umschlagen kann, Schwoba-Blues in Proletenpassion, so reicht Komik bis in the Länd of Löffelabgeben. Dafür sorgt eine doppelt tödliche Diagnose in „Ruhe, hier stirbt Lothar!“. Letzte Dinge, letzte Fragen – auch eine Spielplankonstante der Schirmer-Grube-Ära – greift das Alzheimer-Drama „Der Vater“ mit Reinhold Ohngemach ebenso auf wie das Atomkatastrophen-Memento „Die Kinder“ oder der Drei-Figuren-Monolog „Niemand wartet auf dich“ mit Gesine Hannemann und der Reflexion über die Möglichkeiten, Einfluss auf gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen zu nehmen. Damit auch die noch eine bewohnbare Erde vorfinden, die heute und – hoffentlich – in Zukunft in die Junge WLB gehen.

Aus der Mäuseperspektive

Dort gibt es mit dem Mäusemusical „Anton“ eine andere Geschichte von unten, nämlich von unter dem Sofa aus der Perspektive der Mäuse, die sich auf Weihnachten freuen. Bis sie entdecken, dass eine Katze auf dem Wunschzettel steht. „Salon Salami“ vom gebürtigen Esslinger Benjamin Tienti handelt von einer toughen Zwölfjährigen im (aber-)witzigen Überlebenskampf für ihre prekäre Familie. Die Junge-WLB-Leiterin Laura Tetzlaff blickt als Regisseurin in „Und alles“ sowie „Der Elefant“ auf Klimakatastrophe und Depression, aber auch auf die Silberstreifen, die jugendlicher Mut an den düsteren Horizonten entdeckt. Für Außenseiterin Antje in „Mein innerer Elvis“ ist die Realutopie schlichtweg der Star von Memphis. Und zum guten Schluss steht ein großer Utopist der deutschen Jugendliteratur auf dem Plan: Michael Ende mit „Momo“ als Freilichtstück für die ganze Familie.

Premieren der Saison 2023/24 an der WLB

Schauspielhaus

Der Unheimliche von Robert Muller. Uraufführung. Regie: Mirjam Neidhart. 22. September

Die Blues Brothers – Ein Roadtrip through the Länd. Bühnenfassung von Andreas Kloos. Regie: Andreas Kloos. 7. Oktober

Der Vater von Florian Zeller. Regie: Christof Küster. 1. Dezember

Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin. Regie und Bühne: Alexander Müller-Elmau. 12. Januar 2024

Ruhe, hier stirbt Lothar von Ruth Toma nach dem gleichnamigen Film. Regie: Christine Gnann. 1. Februar 2024

Proletenpassion von Heinz Rudolf Unger (Text) und Die Schmetterlinge (Musik). Regie: Klaus Hemmerle. 23. März 2024

Heimatlos auf hoher See Die Irrfahrt der St. Louis von Susanne Beck und Thomas Eifler. Uraufführung. Regie: Eva Lemaire. 15. Juni 2024.

Freilicht auf der Maille

Momo nach dem Roman von Michael Ende. Familienstück. Regie, Bühne und Kostüme: Marcel Keller. 20. Juni 2024.

Podium 1 im Schauspielhaus

Der Messias von Patrick Barlow unter Mitarbeit von Jude Kelly und Julian Hough. Regie, Bühne und Kostüme: Jan Müller. 24. September

Niemand wartet auf dich von Lot Vekemans. Regie: Catja Baumann. 18. November

Die Kinder von Lucy Kirkwood. Regie: Jenke Nordalm. 28. März 2024

Junge WLB

Salon Salami von Benjamin Tienti. Ab zehn Jahren. Regie, Bühne und Kostüme: Viva Schudt. 16. September, Podium 2 im Schauspielhaus

Anton – Das Mäusemusical von Gertrud Pigor, Thomas Pigor und Jan-Willem Fritsch. Ab fünf Jahren. Regie: Tobias Rott. 19. November, Schauspielhaus

Und Alles von Gwendoline Soublin. Ab neun Jahren. Regie: Laura Tetzlaff. 27. Januar 2024, Podium 2 im Schauspielhaus

Der Elefant von Peter Carnavas. Ab sechs Jahren. Regie: Laura Tetzlaff. 16. März 2024, Studio am Blarerplatz

Mein innerer Elvis von Jana Scheerer. Ab zwölf Jahren. Regie: N. N. 24. März 2024, Podium 2 im Schauspielhaus

Zahlen statt Zäsuren

Ensemble
 Im WLB-Ensemble geht es zäsurlos weiter: Es gibt keine Veränderungen, sagt Intendant Friedrich Schirmer.

Publikum
 Die Besucherbilanz der Saison 2021/22 ist durch Corona geprägt, über sechs Monate lang durften nur maximal 50 Prozent der Plätze besetzt werden. Trotzdem kamen 62 275 Zuschauerinnen und Zuschauer zu den Vorstellungen der WLB. Es gab schon schlechter besuchte Spielzeiten – ohne Corona. Die laufende Saison 2022/23 verzeichnet nach einiger „Zurückhaltung in Esslingen im Herbst“, so Intendant Marcus Grube, eine Normalisierung mit 62 877 Besucherinnen und Besuchern bis März. Der März selbst erreichte Vor-Corona-Niveau.  

Gastspiele
 Bei den Gastspielen der WLB „war das Publikum sofort wieder da“, sagt Grube. Die Stücke vom neuen Spielplan 2023/24 werden allerdings später als üblich gebucht. Dennoch wird etwa die Saison 2014/15 bereits jetzt übertroffen, nicht jedoch die Boom-Spielzeiten von 2016 bis 2018. Grund ist die Etat-Unsicherheit in den Kommunen aufgrund der Energiekrise, aber auch der ÖTV-Tarifabschlüsse.

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