Der britische Bestseller-Autor legt wieder einen Geschichts-Thriller vor: „Der zweite Schlaf“. Wer sich die ganze Spannung nicht vermiesen will, darf nicht viel darüber lesen. Denn die Idee ist wieder genial – und die Durchführung packend. Warum auch dieser Harris das Zeug zum Bestseller hat.

Stuttgart - Man kann den Roman „Der zweite Schlaf“ von Robert Harris nicht besprechen, ohne zu spoilern. Wer sich also den Spaß nicht verderben lassen will, sollte am Ende dieses Absatzes aufhören zu lesen. Deshalb steht ausnahmsweise das Fazit der Rezension hier am Anfang: Der britische Bestseller-Autor beweist erneut, dass er zu den besten seines Genres gehört. „Der zweite Schlaf“ ist ein intelligentes Stück Unterhaltungsliteratur, eine Dystopie, die sich zugleich spannend liest und unsere Gegenwart aus einer ungewohnten Perspektive betrachtet.

 

Harris hat schon einige seiner Romane in der Vergangenheit angesiedelt. Seine Cicero-Trilogie erzählt vom Ende der Römischen Republik; „Pompeji“ dramatisiert die Ereignisse um den Ausbruch des Vesuv und die Zerstörung der antiken Stadt. In seinem jüngsten Buch, so scheint ist, wendet sich der Autor dem Mittelalter zu. „Am Spätnachmittag des neunten Tages im April des Jahres unseres Auferstandenen Herrn 1468, einem Dienstag, suchte ein einsamer Reiter seinen Weg“, lautet der erste Satz. Bei dem Reiter handelt es sich um den jungen Priester Christopher Fairfax. Er soll sich auf Befehl seines Bischofs in das abgelegene Dorf Addicott St George in Exeter begeben, um den jüngst verstorbenen Dorfpfarrer beizusetzen.

Nach dem Cyberkrieg zurück in die Finsternis

Wollballen auf Holzkarren, Sackleinenkutten, die Drohung mit dem Pranger – Harris Setting klingt wie tiefes Mittelalter. Wären da nicht verstörende Details. So wird der Reiter durch einen Sittich aufgestört. Doch die Papageienart gab es im England des 15. Jahrhunderts noch nicht. Im Pfarrhaus tickt eine Standuhr. Solche Uhren kamen erst Ende des 17. Jahrhunderts auf. Unterhaltungsschriftsteller, die Mittelalter-Romane schreiben, halten sich in der Regel ihre akribische Recherche zugute. Sollten ausgerechnet dem ausgefuchsten Profi Harris solche Schnitzer unterlaufen?

Tun sie nicht. Denn „Der zweite Schlaf“ spielt rund 800 Jahre nach der großen Katastrophe, der Apokalypse, bei der unsere heutige Zivilisation nach einem Cyberkrieg zusammenbrach. Nach Jahrhunderten des Chaos hat sich in England ein wissenschaftsfeindliches klerikales Regime etabliert. Statt I-Phones zu benutzen, schreiben die Menschen wieder mit Tinte und Feder, schicken ihre Briefe mit berittenen Boten. Altertumsforschung, also die Erforschung der wenigen noch vorhandenen Relikte unserer heutigen Zeit, ist streng verboten.

Harris Romankonstruktion ist ungemein intelligent. Das 15. Jahrhundert des „ersten Schlafes“ (also das Ende des richtigen Mittelalters) war die Zeit der Renaissance. Nach dem Zusammenbruch der hoch entwickelten Zivilisation der Antike hatten zunächst Chaos, Unwissenheit und primitive Verhältnisse geherrscht. Jetzt aber begannen einige Menschen, die absolute Herrschaft der Kirche und die Gewissheiten des Glaubens in Frage zu stellen. Gleichzeitig hatten viele das Gefühl, die Antike sei aufgrund ihrer Dekadenz dem Untergang geweiht gewesen, ihre Bewohner hätten die Zeichen des Zerfalls jedoch nicht erkannt.

Der Bischof will alles für sich allein haben

Wie bei einem Blick in einen fernen Spiegel (eine Metapher der Mittelalter-Historikerin Barbara Tuchman) lässt Robert Harris seine Protagonisten des zweiten Mittelalters die Artefakte unserer Zivilisation so betrachten, wie die Menschen des ersten Mittelalters die Überreste der Antike sahen: mit Staunen, Spekulationen, Verwunderung und einer gehörigen Portion Furcht vor der Strafe Gottes ob ihrer unziemlichen Neugier.

Zugleich versammelt Harris das Personal eines neuen Aufbruchs: den Priester Fairfax, in dem die Glaubenszweifel reifen; den Weberei-Besitzer Captain Hancock, Vertreter eines aufstrebenden, tatkräftigen Kapitalismus; den blutspuckenden Altertumsforscher Dr. Shadwell, am Leben gehalten nur noch von seiner intellektuellen Neugier, und den mächtigen Bischof Pole, der die Früchte der Erkenntnis, die er anderen vorenthält, unbedingt selbst kosten will. Das alles verdichtet der englische Schriftsteller in die flott zu lesende Handlung eines Archäologie-Thrillers. Und weil er sein Genre so perfekt beherrscht, erlaubt er sich, was Unterhaltungsautoren sonst scheuen: ein offenes Ende. Ob auf den zweiten Schlaf ein erneutes zivilisatorisches Erwachen folgt, bleibt im Ungewissen.

Robert Harris: Der zweite Schlaf. Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Heyne, München. 416 Seiten. 22 Euro.