Die Begriffe für das Phänomen sind vielfältig: Wokeness, Cancel Culture, Political Correctness. Es handle sich, befindet der Journalist René Pfister, dabei um eine „neue linke Ideologie aus Amerika, die unsere Meinungsfreiheit bedroht“. So jedenfalls lautet der Untertitel seines Buches „Ein falsches Wort“. Wie sehr die Ideen einer linken Identitätspolitik bereits in unser Denken eingesickert sind, wurde gerade erst in der Debatte über Karl May und Winnetou deutlich. Dabei sind es manchmal unscheinbare Sätze, die entlarvend wirken.
So hat Mirko Lange, ein Experte für soziale Medien, in einem Online-Artikel darzulegen versucht, dass die Winnetou-Kontroverse eher von der „Bild“-Zeitung gesteuert worden sei als von Aktivisten einer Cancel-Culture-Bewegung. Er analysierte akribisch, zu welchem Zeitpunkt wie viele Tweets zum Thema veröffentlicht worden sind. Sein Fazit: Es handle sich um einen „erfundenen Shitstorm“. Der Text liest sich zunächst durchaus nachvollziehbar.
Konsens der abendländischen Aufklärung aufgekündigt
Dann aber kündigt Lange in nicht mehr als einer Randbemerkung den Konsens abendländischer Aufklärung auf. Es gehe, schreibt er, in der Debatte über Winnetou gar nicht um Political Correctness, sondern darum, dass Menschen „das Bild selbst bestimmen können, was man von ihnen hat“. Ernsthaft? Das widerspräche dem Grundprinzip des aufgeklärten Diskurses. Darf der rassistische AfD-Wähler aus Sachsen-Anhalt selbst das Bild bestimmen, das die Gesellschaft von ihm hat? Oder wird ihm dieses Recht dann doch verwehrt, weil er noch immer von weißen und männlichen Privilegien profitiert?
Hier bezieht der Buchautor Pfister Stellung. Die Demokratie lebe vom Ringen um das stärkste Argument und den bestmöglichen Kompromiss – nicht vom Diskursausschluss. Sonst komme es zur „Aufspaltung der Gesellschaft in jene, die sich moralisch im Recht fühlen, und den Rest, der sich als rückständig verunglimpft sieht und sich Populisten wie Trump und Björn Höcke zuwendet“.
Pfisters Beobachtungen stammen großteils aus Amerika
Pfister leitet seit drei Jahren das Washingtoner Büro des „Spiegels“. Den Großteil seiner Beobachtungen hat er daher in den Vereinigten Staaten gemacht. In 13 Kapiteln zeigt er anhand zahlreicher Beispiele auf, wie sich das Meinungsklima in den dortigen Universitäten, Medien und Verwaltungen durch linken Aktionismus verschärft hat.
Da ist zum Beispiel der angesehene Wissenschaftsredakteur der „New York Times“, der seinen Job verliert, weil er das „N-Wort“ (distanzierend) zitiert. Bei einem Hochschulprofessor reichte die Erwähnung der abgekürzten Version, um ihm den Vorwurf einzuhandeln, er traumatisiere PoC-Studierende. PoC steht für People of Colour, also Menschen nicht weißer Hautfarbe. Statt zu diskutieren, konstatiert Pfister, bestehen die Betroffenen darauf, vor jedem Widerspruch geschützt zu werden.
Verteidigung der liberalen Demokratie gegen identitäre Linke
Als Kommunikationswissenschaftler beschäftigt sich René Pfister ausführlich mit den Vordenkerinnen und Vordenkern linker Identitätspolitik von Judith Butler bis Ibram X. Kendi. Er erkennt viele Anliegen von bislang ausgegrenzten Minderheiten als berechtigt an und bestreitet nicht, dass die offene Gesellschaft von rechts bedroht wird. Aber er verteidigt die liberale Demokratie mit ihren als mühsam empfundenen Diskursen gegen eine identitäre Linke, die mit unverhohlenem moralischem Überlegenheitsgefühl gerade auf die liberalen Sympathisanten ihrer Anliegen losgeht – wegen deren besonders perfiden, weil versteckten und verinnerlichten Rassismus. Es wäre nicht das erste Mal, dass linker Rigorismus rechten Populisten als lachenden Dritten den Weg bereitet.
René Pfister: Ein falsches Wort. Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsvielfalt bedroht. Deutsche Verlags-Anstalt, 256 Seiten, 22 Euro.