Die Einstürzenden Neubauten legen ein vorzügliches Konzeptalbum zum Thema Erster Weltkrieg vor – und zeigen, warum sie noch immer die mit Abstand interessanteste Band Deutschlands sind.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Berlin - Für belliziöse Donnerschläge stehen wir nicht zur Verfügung“, hat Blixa Bargeld dieser Tage in einem Interview gesagt. Was einigermaßen verblüfft, denn dieser Satz klingt so, als würde ein Metzgermeister erzählen, dass er sich ausschließlich vegan ernährt. Steht doch kaum eine Band deutschland- und weltweit so sehr für kultivierten Krach, domestizierten Donner wie die Einstürzenden Neubauten.

 

Und schon das erste Stück auf dem an diesem Freitag erscheinenden neuen Album dieser Band widerlegt ihren Sänger und Texter sogleich. Das Lied „Kriegsmaschinerie“ ist eine wütende fünfeinhalbminütige Noise-Attacke, weist aber nur ungefähr die Richtung. Bei dem Album „Lament“ handelt es sich nämlich um eine Auftragsarbeit der flämischen Stadt Diksmuide, mit der dort an diesem Wochenende musikalisch-performativ an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erinnert werden soll, in dem die Stadt im Frontbereich der Ypernschlacht lag und komplett zerstört wurde. „Was man hört, ist zunächst das Nebenprodukt dessen, was auf der Bühne geschieht“, hat Blixa Bargeld dieses Konzept erläutert. Das macht natürlich außerordentlich neugierig auf die Auftritte, aber dieses Album entfaltet auch nichtszenisch seine Qualitäten. Ganz hervorragend sogar.

„Lament“ verblüfft zum einen mit einer musikalischen Vielfältigkeit, die sogar die von dieser Band bekannte Experimentierfreude bis zur Neige auslotet. „The Willy-Nicky Telegrams“ etwa bereitet dialogisch einen Depeschenwechsel zwischen „Willy“ Kaiser Wilhelm von Preußen und „Nicky“ Zar Nikolaus von Russland auf, teils durch den Vocoder gejagt, unterlegt von nachgerade hypnotischen Beats, instrumentiert in der Kirchentonart Phrygisch. Das Stück „Der 1. Weltkrieg“ wiederum nutzt (in über dreizehn Minuten Länge!) für jedes an diesem Krieg beteiligte Land eine der Neubauten-typischen Plastikrohrpfeifen, über einer perkussiven Grundierung erhebt sich vielzüngiges Stimmengewirr. Das klingt nach recht akademischem Musizierduktus, das ist es aber ganz und gar nicht. Vielmehr ergibt sich ein zwar komplexes, aber oft auch sehr melodisches (auch durch die Gastvokalistinnen und -streicher) und außerordentlich ausdrucksstarkes Klangspektrum von vortrefflicher Güte.

„Lament“ beeindruckt zum anderen durch die herausragende textliche Ausgestaltung. Basis sind historische Fragmente, Fetzen und Passagen, verfremdet, erweitert und in neue Kontexte gesetzt durch Bargeld und die Band. Etwa die heutige britische De-facto-Nationalhymne, damals unter dem Titel „Heil dir im Siegerschein“ Kaiserhymne des Deutschen Reichs, die statt gloriolenverklärter Vaterlandsverehrung bei den Einstürzenden Neubauten zur Originalmelodie nun die Verse „Heil dir im Siegerkranz / Kartoffeln mit Heringsschwanz / Heil Kaiser dir / Friss in des Thrones Glanz / Die fette Weihnachtsgans / Uns bleibt der Heringsschwanz / in Packpapier“ verpasst bekommt. Exemplarischer Ausweis der lyrischen Tiefe der Bargeld’schen Gedankenwelt ist dies, in die er auf diesem Album in Deutsch und Englisch und ein wenig Französisch Einblicke gewährt.

Gewürzt wird dies mit zwei Ausflügen ins Flämische, Liedern, die auf Texten des belgischen Autors Paul van den Broeck basieren, der selber im Ersten Weltkrieg kämpfte. Dazu kommen zwei mit Sprachcollagen verfremdete Stücke einer amerikanischen Marschkapelle. Und der titelgebende Dreiklang „Lament“, bestehend aus einem sphärisches Vokalstück und zwei Instrumentals. Sowie, vor dem Schlussakkord dieses auch mit seiner Länge von knapp 78 Minuten den üblichen Rahmen weit sprengenden Albums, ein sehr ulkiges Stück des deutschen Klangpoeten Joseph Plaut, der die Weltkriegsgeschichte aus Tiersicht erzählt.

Nochmals: man muss die Performance vielleicht gesehen haben, um alle intendierten Zusammenhänge zumindest zu erahnen, und natürlich – die Aufzählung hier legt das ja schon nahe – ist dieses Album sehr disparat. Doch die einzelnen Titel kann man auch isoliert betrachten (interessante Informationen steuert das exzellente Booklet bei) und vor allem hören. Man merkt diesen Kompositionen die solide Recherche in Forschungseinrichtungen und Museen an. Und die Altmeister zeigen, warum sie noch immer die mit Abstand interessanteste Band Deutschlands sind.