Wie übersteht man als Schaf im Wald den Tag, ohne gefressen zu werden? In Sid Sharps Bilderbuch „Der Wolfspelz“ greift ein Widder zu einem ungewöhnlichen Trick.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Im Märchen ist die Rollenverteilung einfach, da ist der Wolf der Böse. Im echten Leben ist das komplizierter, wie man derzeit an der Rückkehr des Raubtiers sieht. Der Platz auf der Roten Liste hat das Image des Wolfs aufpoliert. Darüber geriet ein bisschen in Vergessenheit, dass er ordentlichen Hunger mitbringt und bei der Menüwahl nicht zimperlich ist.

 

Ein Schaf zu sein ist also nicht leicht in diesen Tagen. Bellwidder Rückwelzer heißt das Prachtexemplar in Sid Sharps Bilderbuch „Der Wolfspelz“. Der Schafsmann wohnt in einer einsamen Hütte tief im Wald. Zum Frühstück isst er vor seiner Rosablümchentapete rosa Blümchen, vielleicht hat er deshalb eine so üppig blühende Fantasie. Heult draußen ein Wolf? Huscht da ein Schatten mit langen, scharfen Krallen vorbei? Als Bellwidder sich trotz seiner Bedenken zum Beerensuchen nach draußen wagt, vergeht ihm ziemlich schnell der Appetit.

Ängste werden sichtbar

Sid Sharp gelingt es, Ängste sichtbar zu machen. Schablonenhaft wie in einer Collage sind sattgrüne Pflanzen am Waldboden zwischen rote Baumstämme platziert, die flammengleich züngeln. Mit dem dynamischen Dreh wandelt sich der zuvor so friedliche Wald in einen verdächtigen Ort. Das Illustrationstalent aus Kanada sagt zur Inspiration seines Bilderbuchdebüts: „In einem Traum war ich ein Schaf, das versuchte, den Tag zu überstehen, ohne gefressen zu werden. Es war schrecklich!“

Cover (Detail) Foto: Nord-Süd-Verlag/Sid Sharp

Vor schwarzem Hintergrund darf uns Bellwidder sein gruseliges Wissen über Wölfe mitteilen. Dass er dann tatsächlich einem begegnet, bringt das Schaf auf eine Idee: Es näht sich einen Wolfspelz und traut sich darin allerhand. Sogar zum Mondanheulen lässt sich Bellwidder von den Wölfen einladen, denen er im Wald begegnet. Dummerweise löst sich dabei sein zu flott gebastelter Wolfspelz in Wohlgefallen auf – und sorgt bei den anderen im Rudel für ein erleichterndes Entblößungsritual: In jedem Wolfspelz steckt in Wahrheit ein tierischer Angsthase.

Sid Sharp malt abschließend Ziegenbock, Schaf, Vogel und Reh in trauter Eintracht: Sonnenaufgang, Beerenpflücken, Teetrinken macht zusammen viel mehr Freude. Mit den Wölfen heulen? Oder sich öffnen und anderen vertrauen? Bellwidder fällt die Wahl nicht schwer. „Sich anzupassen oder nicht, ist nicht so einfach, wie es manchmal scheint“, weiß Sid Sharp. Im friedlichen Wald ist dieses Happy End logisch und von Sid Sharp so fantastisch schön ausgedacht wie aufgemalt. Doch wehe, wenn das nächste Tier, das auftaucht, ein Wolf im Schafspelz ist.

Info

Buch
Sid Sharp: „Der Wolfspelz“. Nord-Süd-Verlag. 136 Seiten. 22 Euro. Ab 6 Jahren