Die StZ-Redakteurin Amber Sayah hat ein Buch mit Architekturbeiträgen aus unserer Zeitung herausgegeben: einen Überblick über aktuelle Bauten und Debatten.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Diese Szenenbeschreibung dürfte vielen aus der Seele sprechen: „Wir befinden uns im Jahr 2018 n. Chr. Ganz Stuttgart zwängt sich zähneknirschend, aber fatalistisch durch die Baustellenstaus . . .“ Dieser Stoßseufzer steht am Anfang des Bandes „Architekturstadt Stuttgart“, der jetzt gemeinsam von unserer Zeitung und dem Belser-Verlag veröffentlicht worden ist. Die Herausgeberin Amber Sayah, seit vielen Jahren Kulturredakteurin und Architekturkritikerin unserer Zeitung, eröffnet so ihre Einleitung zu einer Sammlung von Beiträgen aus der Zeitung, die sich mit „wegweisenden Bauten“ und „aktuellen Debatten“ der vergangenen sechs Jahre befassen. Denn viele Projekte – siehe Opernsanierung – sind über das Debattenstadium nicht hinausgekommen, aber manches ist in jüngerer Zeit in der Landeshauptstadt ja tatsächlich auch fertig gebaut worden: vom Gerber bis zum Milaneo, vom Dorotheen-Quartier bis zum Stadtmuseum im Wilhelmspalais, vom völlig neu gestalteten Hospitalhof bis zur sanierten Hospitalkirche gleich nebenan. Unsere Zeitung hat all diese Projekte stets ausführlich und kritisch publizistisch begleitet – und bietet nun mit diesem Überblick Gelegenheit, noch einmal konzentriert Bilanz zu ziehen.

 

Eine Zwischenbilanz, wohlgemerkt; denn noch reiht sich ja, siehe oben, im Kessel eine Baustelle an die andere. Vor allem ist da dieser eine Riesenbauplatz, die Grube im Herzen der Stadt, das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, das zu Beginn des Jahrzehnts die Bürgerschaft so tief und emotional gespalten hat und dessen Fertigstellung sich nun überaus quälend immer weiter ins kommende Jahrzehnt hinein verzögert. Sayah erinnert im Vorwort an das „unbeugsame Häuflein Widerständiger“, das nicht müde wird, „immer wieder montags“ gegen Tunnel und Tiefbahnhof zu demonstrieren – und das mit vielen seiner Prophezeiungen bezüglich Kosten und Komplikationen ja so unangenehm recht behalten hat.

Ein neues bürgerschaftliches Interesse

Gleichwohl kann die Autorin den alten Gräben auch etwas Gutes abgewinnen: „Es hat den Anschein, als wäre durch den Kampf ein neues bürgerschaftliches Interesse an der Stadt erwacht, das Gefühl, ihre Gestaltung zu lange vernachlässigt zu haben und nun an einem Wendepunkt zu stehen.“ Die Rolle des Verkehrs werde in der Autostadt Stuttgart zunehmend kritisch diskutiert; der desolate Wohnungsmarkt rücke endlich in den Mittelpunkt. Die Zukunft der Kulturmeile links und rechts der Stadtautobahn interessiere große Teile der Bürgerschaft; die Internationale Bauausstellung 2027 in Stadt und Region werfe schon ihre Schatten voraus. All dies hat seinen Platz im Debattenteil von „Architekturstadt Stuttgart“, und zugleich belegten zahlreiche Objekte aus dem „Bauten“-Teil, „dass die Stadt an vielen Stellen in den letzten Jahren an Attraktivität gewonnen hat“.

Zu den Autoren der Beiträge zählen die Architekten Arno Lederer, Thomas Hermann und Horst Sondermann sowie die Architekturkritiker Hans-Jürgen Breuning und Dietrich Heißenbüttel. Der Journalist Wieland Backes ist mit seinem pointierten Debattenbeitrag „Think big, Stuttgart!“ vertreten, dessen Veröffentlichung im Dezember 2016 in unserer Zeitung zur Initialzündung für die Bürgerinitiative Aufbruch wurde. Von dem im Frühjahr 2018 verstorbenen Kultur- und Stadtbau-Vordenker Roland Ostertag ist eine ebenso heftige wie warmherzige Klage gegen den „Abriss-Furor in Stuttgart“ nachzulesen.

Der gebaute Alltag spielt eine große Rolle

Und dann finden sich in diesem Band natürlich auch viele Beiträge der Herausgeberin selbst; keineswegs nur über die großen Neuerungen im Stadtpalais oder im Dorotheen-Quartier, sondern auch über das vermeintlich kleine, in Wahrheit ebenso wichtige, weil Stadtleben und Alltag prägende Einzelprojekt: die Wohnhäuser BF an der Reinhold-Nägele-Straße, die geplante Sanierung der Brenzkirche, eine zum Wohnhaus umgebaute ehemalige Schlosserwerkstatt im Lehenviertel.

Der Band „Architekturstadt Stuttgart“ blickt auch über die Gemarkungsgrenzen hinaus, etwa auf ein Mikrohofhaus in Ludwigsburg, mitten auf einer Kreuzung zwischen den Verkehrsströmen der Bundesstraße 27, oder auf Kindergärten, die durch ihre hohe Gestaltungsqualität auffallen, beispielsweise in Aichtal oder Poppenweiler bei Ludwigsburg. Und schließlich wagt er eine Vorausschau auf die Remstal-Gartenschau 2019 mit ihren 16 Architektur-Stationen.

So ermöglicht er einen repräsentativen Überblick über neuere Architektur in Stadt und Region seit 2013 und belegt zugleich den Rang, den die kritische journalistische Begleitung dieser Themen in unserer Zeitung hat – den sie im Übrigen auch in Zukunft einnehmen soll, in den kommenden sechs Jahren und darüber hinaus.

Amber Sayah (Hg.): Architekturstadt Stuttgart – Wegweisende Bauten, aktuelle Debatten. Belser Verlag Stuttgart. 144 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 29,90 Euro.

Premiere: Am Freitag, 12. Oktober, wird der Band im Literaturhaus vom Belser-Verlag und der Stuttgarter Zeitung vorgestellt. Die Herausgeberin diskutiert mit dem Architekturhistoriker Klaus Jan Philipp von der Universität Stuttgart über die Planungskultur in Stuttgart. Beginn 19.30 Uhr.