Den 100. Geburtstag hat die Messe übersehen – und geht bei ihrem Neujahrsempfang offen damit um. 1600 Gäste erleben nicht nur deshalb einen Abend der Überraschungen: Ex-Minister Thomas de Maizière begeistert mit einer Ruckrede.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Im seinem Vokabular, sagt Roland Bleinroth, kam bis zum Frühjahr 2020 das Wort „Veranstaltungsverbot“ überhaupt nicht vor. Der Sprecher der Geschäftsführung der Messe Stuttgart erinnert an den „Tränenflash“, den sein gesamtes Team erleiden musste, als das Virus den Betrieb lahmlegte. Ach, wie froh sind alle, dass kein Impfzentrum mehr in den Ausstellungshallen nötig ist, dass sich Menschen wieder treffen können!

 

Vor Corona zählte der Neujahrsempfang der Messe stets zu den beliebtesten Veranstaltungen der Stadt. Die etwa 1600 Einladungen sind begehrt, weil man an einem Abend so viele Entscheidungsträger und Multiplikatoren aus Stuttgart und der Region auf einem Streich treffen kann wie sonst nur selten. Der Empfang auf den Fildern ist eine Informationsbörse für alle, die den persönlichen Austausch bevorzugen, weil sie damit den Menschen viel näher kommen und deshalb mehr erfahren können.

Beim ersten Neujahrsempfang – kurz „NJE 2024“ auf jedem Namenskärtchen – spürt man auf der Messe nach dreijähriger Pandemie-Pause, wie sehr sich die Gäste freuen, dass die Rückkehr zur Normalität Triumphe feiert. Im Showprogramm legt Darja Varfolomeev, die fünfmalige Goldmedaillengewinnerin der Rhythmischen Sportgymnastik, einen spektakulären Auftritt hin. „Die Messe hat ein neues Rekordjahr im Visier“, ruft Stefan Lohnert aus, der 2020 nach dem Abschied von Ulrich Kromer (auch er feiert an diesem Abend mit) zum Geschäftsführer bestellt wurde – just in jenem Jahr, als wegen Corona nichts mehr ging.

Viele der 1600 Gäste (alles da: von VfB-Präsident Claus Vogt bis OB Frank Nopper, vom Varieté-Chef Timo Steinhauer bis zur Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut, von Veranstalter Christian Doll bis zum Wasenwirt Michael Wilhelmer, vom Breuninger-Chef Holger Blecker bis zum Alt-OB Wolfgang Schuster) haben sich gefreut auf Begegnungen in gut gelaunten und informativen Runden. Bevor der Small Talk in die Vollen geht, blitzen auf der Bühne zwei wichtige Themen auf, die im Foyer danach ausführlich besprochen werden.

Die Anfänge der Messe gehen in Wahrheit auf das Jahr 1918 zurück

Die Messe-Chefs überraschen im Gespräch mit Moderatorin Stefanie Kromer, der Kommunikationsdirektorin, mit der Enthüllung, dass Geschichte quasi neu geschrieben werden muss. Bisher ging man davon aus, dass die Messe am 28. Mai 1940 als Stuttgarter Ausstellungs-GmbH auf dem Killesberg gegründet wurde. So steht es auch auf der Homepage des Unternehmens. In Wahrheit gehen die Anfänge auf das Jahr 1918 zurück.

„Um unser neues indisches Tochterunternehmen, Messe Stuttgart India, registrieren zu lassen, verlangten die dortigen Behörden einen Nachweis, wann die Messe Stuttgart offiziell gegründet worden war“, berichtet Bleinroth. Bei den Recherchen sei man dann auf den Namen Stuttgarter Handelshof AG gestoßen, die im Oktober 1918 ins Handelsregister eingetragen wurde. Weitere Archivsuchen haben ergeben: Das Stammkapital betrug damals 200 000 Mark – mehrere Gründer haben das Geld aufgebracht, die Hälfte davon kam vom Verband Württembergischer Industrieller.

Der erste Messe fand im Kronprinzenpalais (ein Jahr nach Ende der Monarchie wurde es nicht mehr von der königlichen Familie genutzt) statt und hieß „Jugosi“, es war eine Messe für Juwelen, Uhren, Gold-, Silber- und Metallwaren. Die Messe hätten ihren 100. Geburtstag im Vor-Corona-Jahr 2018 groß feiern können. „Wir werden die Feier nachholen“, sagt Geschäftsführer Lohnert, „aber nicht in diesem Jahr – da ist zu viel los!“

Die zweite Überraschung des Abends ist der frühere Innen- und Verteidigungsminister Thomas de Maizière, 69, der mit seiner Rede abseits von Politikerfloskeln die Gäste in eindringlichen Worten aufzuwecken versucht. Seine Botschaft: die Deutschen müssten länger, mehr, besser arbeiten, sonst werde das Land gegenüber anderen Staaten „durchgereicht“, was Wohlstand und Innovationsniveau betrifft. Die Anspruchshaltung sei zu groß. Er spottet nach „Helikoptereltern“ über „Rasenmähereltern“, die jeden Grashalm für ihre Kinder wegmähten, damit diese nicht hinfallen könnten.

Thomas de Maizière kritisiert den Bauernpräsident

Ja, das Land habe viele Probleme – doch nicht für alle Probleme könne man die Ampel verantwortlich machen, sagt der CDU-Mann. Jammern bringe nicht weiter, viel wichtiger sei es, ans Gemeinwohl denken, jeder müsse sehen, was er selbst tun könnte. De Maizière kritisiert den Bauernpräsident, der gesagt habe, er sei zu jedem Dialog bereit, aber zu keinem Kompromiss. Zu einer Demokratie gehörten Kompromisse.

Seine Ruckrede wird zum Weckruf, für den es viel Beifall gibt und der für hitzige Gespräche im Anschluss sorgt. Ein Satz des früheren Ministers hallt nach: „Wir haben zu viele Meinungen, aber zu wenig Haltung.“