Fußball ist den Engländern wichtiger als ihre Zukunft in der EU. Für einen Titel ihrer Nationalmannschaft würden sie alles geben. Das ist das Ergebnis eines Pub-Besuches in Newcastle während des Spieles gegen die Slowakei

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Newcastle - Die Frage ist schnell beantwortet. Sollen die Engländer lieber Fußballeuropameister werden oder in den EU bleiben? Fassungsloses Kopfschütteln. Natürlich ist der Titel wichtiger. Nach Jahren der Niederlagen soll endlich wieder einmal eine wirklich wichtige Meisterschaft auf die Insel.

 

Vielleicht ist die Frage aber auch zur falschen Zeit und am falschen Ort gestellt. Auf den etwa 30 Bildschirmen im Raum läuft gerade die Partei England gegen die Slowakei und die Männer von der Insel mühen sich wieder einmal vergeblich, den Ball ins gegnerische Tor zu bringen. Zudem räumen im Parallelspiel der Gruppe die ungeliebten Waliser die Russen ohne Mühe vom Feld und zeigen dem großen Nachbarn von der Insel, wie man Tore am Fließband schießen kann. Das heißt, England ist nur Gruppenzweiter – eine Demütigung für das ganze Land.

Es geht um ein Gefühl, nicht um Argumente

Das Bier fließt aus Frustration reichlich und die Stimmung könnte durchaus besser sein. Zudem haben sich an diesem Abend die typischen Brexit-Befürwortet im Pub „Nummer Neun“ in den Katakomben des Stadions St. James‘ Park in Newcastle zusammengefunden: eher älter, in der Mehrzahl weiß und vor allem Arbeiterklasse. An objektive Gespräche über den Verbleib der Briten in der Europäischen Union ist also eher nicht zu denken. Und sollten EU-Befürworter im Raum sein, halten sie sich in diesem Moment dezent zurück.

„Wir werden von den Immigranten doch jetzt schon überrannt“, bellt ein untersetzter Biertrinker über den Tisch. Die anderen nicken zustimmend. „Alle wollen es sich doch nur in unserem Sozialsystem bequem machen.“ Das ist das Standardargument in der Brexit-Kampagne. Die Mühe zu begründen, was das heißt, macht sich keiner der Fußballfans. Seit Wochen hämmern die EU-Gegner und die Mehrzahl der britischen Zeitungen diese Sätze in die Köpfe der Engländer. Es wird deutlich: hier geht es um ein Gefühl, Argumente werden nur wenige ausgetauscht.

Gerade Deutschland müsse doch die Briten in diesem Punkt verstehen, erklärt der Mann, der sich als Ben vorstellt. „Die Deutschen haben doch in den vergangenen Monaten selbst Hundertausende Menschen aufgenommen, wie lange hält das ein Land aus – auch wenn es so reich ist wie Deutschland“, fragt er. Dass es bei der Brexit-Abstimmung um EU-Ausländer geht, die ein Anrecht auf Sozialleistungen haben und nicht um Flüchtlinge, spielt keine Rolle. Ausländer ist in diesem Moment jeder, der nicht Engländer ist.

Jedes Tor für Wales ist ein Nadelstich für England

Ein anderer Fußballfan am Tisch erklärt, dass Großbritannien genug Geld an die EU bezahle, das müsse endlich ein Ende haben. Ihn interessiert nicht, dass sich gerade die Briten im Laufe ihrer EU-Mitgliedschaft unzählige Ausnahmeregelungen erkämpft haben und mehr als die meisten anderen Länder vom freien Markt in Europa profitieren.

Dann verlangt die Fernsehübertragung wieder die ganze Konzentration der Männer am Tresen. Gerade werden in der Wiederholung der drei Tore von Wales gegen Russland gezeigt. Jeder einzelne Treffer wirkt wie ein Nadelstich auf die englischen Fans. Die Bemerkung, dass Großbritannien doch eines Tages mit einer einzigen Mannschaft an solchen Turnieren teilnehmen könnte, wird mit einem fassungslosen Kopfschütteln und einem Aufschrei des Entsetzens quittiert. „Wir? Zusammen spielen? Mit Wales? Oder Schottland? Nie! Das sind unsere Gegner!“ Diese Antwort sagt wohl mehr über das Gefühl auf der Insel aus, als alle Erklärungsversuche von politischen Analysten.

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