Mit einem fulminanten Text über den Tod eines Jungen hat Nora Gomringer den Bachmann-Preis gewonnen. Vor ihrem Auftritt an diesem Donnerstag in der Stadtbibliothek Stuttgart erzählt sie von Kolleginnen, Vätern und der Lust am Wort.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Als Autorin spricht Nora Gomringer mit vielen Zungen. Doch im Gespräch erweist sich die frisch gekürte Bachmann-Preisträgerin von sympathischer Bescheidenheit. Sie hat in diesem Jahr viel erreicht. Ihren aufregendsten Auftritt hatte sie aber nicht in Klagenfurt, sondern beim Neujahrsempfang in Bamberg.

 
Frau Gomringer, Sie haben Ihre Schriftstellerkollegin Nora Bossong zur Hauptfigur des Textes gemacht, mit dem Sie in Klagenfurt den Bachmann-Preis gewonnen haben. Hat sie Ihnen schon gratuliert?
Klar, sie hat sich auch sehr bedankt. Ich habe ihr Blumen geschickt, sie meinte, die Blumen seien sehr schön gewesen, aber noch schöner der Mann, der sie überreicht hat.
Wusste sie vorher, dass sie in Ihrem Text eine Rolle spielt?
Natürlich, ich verwende doch nicht den Namen einer Kollegin, die auch noch so aussieht, wie ich sie beschreibe, ohne ihr etwas davon zusagen. Allerdings durfte sie den Text vorher nicht sehen. Solange sie nicht ganz blöd dabei wegkomme, sei das okay. Ich sagte: Nein, du stirbst nur. Wir beide werden wegen des Namens immer wieder miteinander verwechselt. Der letzte Gruß von Günter Grass an mich war: Nora, ich gratuliere dir herzlich zu dem schönen Artikel in der „Zeit“. Leider war der Artikel von Nora Bossong.
Bei Nora Bossong denkt man an Recherchen vor Ort, bei Ihnen eher an solche im Reich der Wörter und Zeichen.
Ich schreibe über Krankheiten, über psychologische Phänomene, über den Holocaust – aber stimmt schon, ich recherchiere weniger im sozialen Feld als in Archiven.
Wo haben Sie den Stoff für Ihren Bachmann-Text gefunden?
Er stammt aus einem Zeitungsartikel, dessen Echo mir durch den Kopf ging. Der „Fall eines Dreizehnjährigen“, man sei noch auf der Suche nach Motiven. Das war doppeldeutig formuliert. Ich dachte, braucht man für das Fallen Motive? Bis ich gemerkt habe, dass da einer wohl nicht so richtig weiß, wie er es ausdrücken soll, dass sich ein Junge aus dem Fenster eines Wohnhauses gestürzt hat.
Sie spielen äußerst virtuos den Ball aus der Ecke literarischer Spezialinteressen und avantgardistischer Schreibweisen dorthin, wo jeder mitspielen kann.
Mir bereitet es ultimative Freude, wenn die Leute bei Literatur kein Gefühl des Abstandes empfinden, sondern hineingerissen werden. Ich habe zwar keine messianische Message, aber doch einen gewissen didaktischen Impuls.
Bei allem Ernst – es geht um einen Todesfall – bringen Sie Kunstwollen und Unterhaltsamkeit auf erstaunliche Weise zusammen.
Schön, dass Sie das sagen. Es geht ja auch um etwas, das uns ganz nahe ist. Mein Text ist entstanden aus der Beobachtung vieler Menschen. In dem Mietshaus meiner Geschichte wohnen lauter Leute, die mit Beziehungen beschäftigt sind. An Beziehungen mangelt es uns nicht. Aber den Altruismus auf jemanden auszuweiten, der nicht so ist wie wir, wie der homosexuelle Junge, der sich das Leben genommen hat, das fällt uns offenbar schwer. Weshalb wir ja auch versagen, wenn es um die Flüchtlingsfrage geht.
Man könnte die Sprache für den Akteur Ihrer Arbeiten halten, sind Sie auch politisch?
Es irritiert mich immer, wenn mir das abgesprochen wird. Natürlich bin ich im Hier und Jetzt verankert. Ich stehe in der Gesellschaft und verhalte mich zu ihr so, wie sie mir entgegen kommt.