Für Piloten ist es entscheidend, im Ernstfall Prioritäten zu setzen und die Nerven zu behalten. Doch wie können sie vorbereitet werden?

Stuttgart - Es war an einem Tag im Mai, als Chesley Sullenberger wieder in jene Situation versetzt wurde, die ihn vier Monate zuvor mit einem Schlag berühmt gemacht hatte. Zusammen mit seinem Copiloten Jeff Skiles sollte er für die untersuchende Behörde die Sprachaufzeichnung des Fluges kommentieren. Er sah diesem Moment mit Spannung entgegen, wie er in seinem Buch "On Highest Duty" schreibt: "Bisher hatten wir uns auf unser Erinnerungsvermögen verlassen. Nun würden wir Gewissheit erlangen." Und tatsächlich: "Es war, als würden wir den Vorfall noch einmal in Echtzeit erleben."

Die größte Überraschung, schreibt er, sei der schnelle Ablauf der Ereignisse gewesen. Der gesamte Flug dauerte nur fünf Minuten und acht Sekunden. Eine Minute und 40 verliefen völlig harmlos - erst dann tauchten die Vögel auf. Vom Moment des Einschlags bis zur Landung vergingen also lediglich drei Minuten und 28 Sekunden. Sullenberger ist erschüttert: "Das ist weniger Zeit, als ich brauche, um mir die Zähne zu putzen und mich zu rasieren."

In dieser kurzen Zeit haben Sullenberger und Skiles, unterstützt von Fluglotse Patrick Harten, viele Entscheidungen gefällt: Sie haben sich gegen eine Rückkehr nach La Guardia entschieden, und sie haben es abgelehnt, auf den Flughafen Teterboro in New Jersey auszuweichen, den der Fluglotse ihnen nahelegte. Jeff Skiles übernahm es, die Checklisten für Notfälle abzuarbeiten.

Der Kapitän konzentrierte sich ganz aufs Fliegen und die Suche nach einer Landemöglichkeit. Er entschied sich für den Fluss, weil es der einzige Platz innerhalb seines immer kleiner werdenden Aktionsradius war, an dem er keine anderen Menschen gefährden würde. Deshalb sah für ihn der Hudson River nicht abschreckend, sondern geradezu einladend aus. So meisterhaft Sullenberger die folgende Wasserung handhabte: Es war dieser Moment, sagt Jörg Handwerg, Sprecher der Vereinigung Cockpit, in dem sich alles entschied.

Das Unmögliche möglich machen


Was wie eine Entscheidung gegen jede Vernunft klingen mag, ist tatsächlich das Resultat jahrzehntelanger Beschäftigung mit Notfällen gewesen. Kurz bevor Sullenberger mit 16 Jahren seinen Pilotenschein machte, verunglückte eine Piper auf dem Flugplatz, auf dem er in Ausbildung war. Keiner räumte das Wrack weg. Sullenberger zwang sich, es genau anzusehen - es sollte ihm als Mahnung dienen.

In den folgenden Jahren legte er in seinem Kopf eine Datenbank aus vielen solchen Beobachtungen an. Dieses Wissen zahlte sich bei dem Flug vor einem Jahr aus. Im entscheidenden Moment habe er sich an eine Studie über den Einsatz von Schleudersitzen erinnert, schreibt er. Darin hieß es, dass Piloten wertvolle Sekunden damit verschwendeten, das Unmögliche möglich zu machen - etwa, weil sie zögerten, Flugzeuge zu opfern, die Millionen von Dollars wert sind.

Diesen Fehler wollte Sullenberger nicht machen. "Wenn es nicht mehr möglich ist, alle Ziele zu erreichen, dann gibt man das Ziel mit der geringsten Priorität auf", schreibt er in seinem Buch. Für ihn war die Maschine verzichtbar. Und er hatte genug Fälle durchgespielt, um das Unmögliche zu denken. Und es schnell zu tun.

Doch nicht alle Piloten haben das Glück, wie Sullenberger eine Notsituation zu erleben, in deren Gleichung überwiegend wägbare Risiken auftauchen. Der dänische Flugkapitän Stefan Rasmussen erlebt am 27. Dezember 1991 ebenfalls den Ausfall beider Triebwerke direkt nach dem Start. Anders als Sullenberger konnte er die Ursache dafür zu diesem Zeitpunkt nicht erkennen. Erschwerend kam hinzu, dass ihm sein Flugzeug keine verlässlichen Daten mehr lieferte. "Das Panel wurde zum sinnlosen Vielfarbenspektakel", sagt er heute. Gemeinsam mit Copilot Ulf Cedermark musste Rasmussen eine Situation bewältigen, die voller Unwägbarkeiten ist. Er schaffte es, mit dem vollbesetzten, vollbetankten Flugzeug auf einer Wiese notzulanden. Die Maschine zerbrach, doch wie durch ein Wunder bricht kein Feuer aus. Es überleben alle 129 Passagiere, nur 42 von ihnen wurden verletzt.

Das eiserne Gesetz für Notfälle


Wenn so wenige Optionen bleiben wie damals, resümiert der heute 62-Jährige, dann gilt jenes eiserne Gesetz für Notfälle, das jeder Pilot im Schlaf hersagen kann: fliege das Flugzeug, analysiere, behalte die Kontrolle. "Ich erlebte eine weite Öffnung des Wahrnehmungshorizonts, ein Abwägen aller Problemlösungsstrategien", sagt Rasmussen. Im Nachhinein erkannte er, wie er automatisch Versatzstücke unterschiedlicher Szenarien aus den Simulatorentrainings kombinierte.

Kein Training der Welt konnte ihn jedoch darauf vorbereiten, an die eigenen Grenzen zu gehen. Eine Vielzahl an Erinnerungen und Gefühle durchfluteten ihn, während sein Hirn versuchte, der Lage Herr zu werden. "Es war ein unglaublicher Wechsel in jenen letzten Augenblicken, ein ständiges Hin und Her zwischen Furcht und Furchtlosigkeit", sagte er in einem Interview ein Jahr nach dem Vorfall.

Sullenberger und Rasmussen, die sich nie begegnet sind, ziehen aus ihren Erfahrungen ähnliche Schlüsse. Einer lautet, dass die Erfahrungen, die sie bei der Luftwaffe machten, für die Bewältigung ihrer Notfälle entscheidend war. "Die Luftwaffe ist anders als eine Fluggesellschaft kein Unternehmen, das Profit machen muss", sagt Rasmussen heute. Anders als eine Fluggesellschaft kann die Luftwaffe ihre Piloten üben lassen, so viel sie wollen.

Seine Fluggesellschaft habe zuletzt von ihm verlangt, zehn automatischen Landungen des Computers im Cockpit beizuwohnen. Darüber empört sich Rasmussen noch heute: "Viel wichtiger wäre, all diese hilfreiche Technik so oft wie möglich auszuschalten und von Hand zu fliegen." Dem stimmt Jörg Handwerg zu: Über die Kreativität, einer Krise mit neuen Lösungen zu begegnen, verfüge nun einmal nur der Mensch.


Visualisieren hilft Passagieren


Chancen
Die Wahrscheinlichkeit, einen Flugzeugabsturz zu überleben, ist höher als die meisten Passagiere glauben: Sie beträgt laut einer Studie der US-Behörde National Transportation and Safety Board (NTSB) 95,7 Prozent.

Verhalten
In einer Notsituation hängt das Überleben aber laut Experten der US-Luftfahrtbehörde FAA stark vom eigenen Verhalten ab. In den ersten drei und den letzten acht Minuten eines Fluges ist die Wahrscheinlichkeit eines Zwischenfalls am höchsten. In diesen Zeiten empfiehlt sie den Passagieren, aufmerksam zu sein. Außerdem sollten Passagiere in Gedanken visuell durchspielen, wie ihr Fluchtweg zum nächstgelegenen Notausgang aussehen würde.