Hat der Stuttgarter Weg weiterhin Bestand, also die kommunalpolitische Übereinkunft, dass eine möglichst gute, dezentrale Unterbringung Geflüchteter in der Stadt praktiziert wird? Nach dem Nein der CDU-Gemeinderatsfraktion zur Aufnahme weiterer Geflüchteter stellt sich diese Frage – vorweg an Oberbürgermeister Frank Nopper.
Herr Nopper, die CDU-Gemeinderatsfraktion hat jüngst gegen die weitere Aufnahme von Geflüchteten gestimmt. Ist das eine Abkehr vom sogenannten Stuttgarter Weg? Ihr Vorgänger Fritz Kuhn hat die Beibehaltung des unter Manfred Rommel und Wolfgang Schuster begründeten Kurses angemahnt.
Der Gemeinderat und ich halten nach wie vor am sogenannten Stuttgarter Weg fest. Die Bezugnahme auf Rommel und Schuster trifft den Kern der Sache aber nicht. Das waren damals ganz andere Verhältnisse und Umstände. Bei Rommel ging es vor allem um die längst überfällige Anerkennung und Integration von seit vielen Jahren hier lebenden, von deutschen Behörden sogar angeworbenen sogenannten Gastarbeitern sowie deren Angehörigen und Kindern. Und es ging gerade auch um die doppelte Staatsangehörigkeit. Als Wolfgang Schuster im Jahr 2001 sein kommunales Integrationskonzept vorstellte, fand Zuwanderung in einer völlig anderen Form und Dimension statt als nach seiner Amtszeit in den Jahren 2015/2016 sowie 2022/2023.
Was wollte die CDU-Fraktion mit ihrem Nein bewirken?
Sie wollte wohl ein Zeichen setzen. Ich kann aber weder für die CDU-Gemeinderatsfraktion sprechen noch hat sie ihre Linie in Sachen der Flüchtlingsunterkünfte mit mir abgestimmt. Aus meiner Sicht war es eher ein Zeichen in Richtung Bundespolitik, da wir Kommunalpolitiker nicht über Art, Maß und Umfang von Zuwanderung entscheiden, sondern vielmehr nur über den Vollzug von geltendem Bundesrecht, also im Einzelfall darüber, wo und wie Flüchtlinge untergebracht werden.
Nochmal gefragt: Als OB stehen Sie zum Stuttgarter Weg?
Wir müssen die Menschen, die in unserer Stadt ankommen, menschenwürdig unterbringen. Wir müssen sie so gleichmäßig wie möglich und so kleinteilig wie möglich im Stadtgebiet verteilen. Und wir müssen ihnen – wenn sie bleiben wollen und dürfen – die faire Chance zur Integration geben, gerade auch durch Spracherwerb und Bildung. Wir müssen fördern, aber wir müssen auch fordern. Das Ziel des sogenannten Stuttgarter Wegs, die Flüchtlinge in möglichst kleinen Einheiten unterzubringen, funktioniert im Übrigen nicht mehr, wenn so viele Menschen kommen wie gegenwärtig. Und auf Bundesebene muss auch die Frage beantwortet werden, wer kommen darf und wer kommen soll.
Wer soll Ihrer Meinung nach kommen dürfen?
Die Zuwanderung von Fachkräften muss losgelöst von der Zuwanderung über Asylverfahren betrachtet werden. Für die Asylverfahren gilt meines Erachtens: Nur wer diejenigen zurückweist, die kein Bleiberecht haben, wird auf Dauer noch diejenigen aufnehmen können, die wirklich verfolgt sind. Deswegen war auch der Asylbeschluss der EU-Innenminister notwendig. Er muss baldmöglichst umgesetzt werden, da wir vor Ort, wie auch Städtetag, Gemeindetag und Landkreistag übereinstimmend sagen, an der Grenze des Leistbaren angelangt sind – etwa bei der Ausländerbehörde, in den Bürgerbüros, bei der Belegung von Wohnungen, in den Kindertagesstätten. Im Übrigen bin ich der Überzeugung, dass wir einen Paradigmenwechsel brauchen. Wir müssen viel stärker auf die Hilfe in den Herkunftsländern und den Herkunftsregionen setzen, weil wir dort viel mehr Menschen helfen können. Und wir können dort gerade auch den Schwächeren helfen, die es gar nicht bis Europa schaffen würden.
Gegen die Haltung der CDU-Gemeinderatsfraktion hat jüngst ein Bündnis aus politischen Parteien, Sozialverbänden, Kirchen und Migrantenvereinen demonstriert. Darunter auch Ihr Vorgänger Fritz Kuhn ...
Die Beteiligung von Fritz Kuhn hat mich überrascht. Auch die Tatsache, dass überhaupt eine Demonstration stattgefunden hat. Ich hätte dies nachvollziehen können, wenn der Gemeinderat weitere Flüchtlingsstandorte abgelehnt hätte, aber das hat er mehrheitlich ja gar nicht getan. Und zum Zeitpunkt der Demonstration hat sich eine derartige Mehrheit auch gar nicht abgezeichnet. Was mich beunruhigt ist, dass die Demonstranten offensichtlich sogar den von der Berliner Ampel getragenen und mit ausgehandelten Beschluss der EU-Innenminister zum Asylkompromiss und damit jegliche Begrenzung der Zuwanderung ablehnen.
Kuhn hat sich gegen die Positionierung der CDU gewandt. Er sieht das als Bröckeln des bestehenden Konsenses.
Das scheint mir überbewertet zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die CDU-Gemeinderatsfraktion einem pragmatischen Kurs in Sachen Flüchtlingsunterbringung verschließen wird. Wir müssen als Kommunen die Geflüchteten vernünftig und anständig unterbringen, aber wir müssen auch die Stimmungslage in der Bevölkerung in Zeiten einer seit Gründung der Bundesrepublik noch nie dagewesenen Polarisierung und Radikalisierung ernst nehmen.
Wie ist die?
Jedenfalls hat die doch relativ überschaubare Demonstration auf dem Marktplatz nach meiner Einschätzung nicht die Mehrheitsmeinung der breiten Bevölkerung abgebildet. Wir haben es derzeit mit einem dramatischen Vertrauensverlust in die Politik zu tun, die gerade auch in der Zuwanderungspolitik ihre Ursache hat. Wir brauchen die Akzeptanz der Bevölkerung. Man muss eine Gesellschaft auch zusammenhalten.
Die Freundeskreise in Stuttgart haben viel Integrationsarbeit geleistet . . .
Ja, die Freundeskreise haben viel Gutes getan. Es gibt Gott sei Dank Beispiele bestens gelungener Integration bis hin zum Bürgermeister der Gemeinde Ostelsheim im Landkreis Calw, Ryyan Alshebl, der 2015 aus Syrien geflüchtet ist. Dennoch ist knapp die Hälfte derjenigen, die im selben Jahr etwa aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak zu uns kamen, nach wie vor nicht erwerbstätig. Dies zeigt, dass unsere Integrationsfähigkeit durchaus Grenzen hat.