Der Wahlkampf hat die OB-Kandidaten Kraft gekostet. Für einige geht es jetzt um alles. Eindrücke von der Wahlparty vor der Endrunde in zwei Wochen.

Stuttgart - Für einen Augenblick verharrt Fritz Kuhn, dann tritt er beinahe vorsichtig aus dem Aufzug heraus, dorthin, wo sich sofort ein Ring aus Fotografen und Kamerateams um ihn, um seine Frau Waltraud Ulshöfer und um ihre beiden Söhne Leon und Mario schließt. Es ist 19.02 Uhr – der Zeitpunkt, zu dem im Rathaus immer deutlicher wird, dass aus einem lange Zeit enorm engen Zweikampf Fritz Kuhn als Sieger hervorgehen wird.

 

Kuhn blinzelt, das Scheinwerferlicht blendet ihn, und die erste Frage trifft ihn völlig unerwartet. „Herr Turner, sie liegen mit zwei Prozent vorn, freuen Sie sich?“ Fritz Kuhn blickt dem Reporter ungläubig ins Gesicht. „Sie wissen schon, wer ich bin?“ Mühsam kämpft sich Kuhn mit seiner Familie vorwärts, immer wieder wird er von Fragen aufgehalten, immer dichter schließt sich der Ring der Fotografen um ihn, so dass er nach wenigen Schritten und – aus einigem Abstand heraus besehen – völlig hinter breiten Rücken und hoch gehaltenen Kamerateams verschwindet.

Als er den Großen Sitzungssaal betritt, in dem rund 700 geladene Gäste auf die OB-Kandidaten warten, wird er von ohrenbetäubendem Jubel empfangen. Als einer der Ersten ist sein alter Weggefährte Rezzo Schlauch bei ihm, der ihn umarmt. Vor 16 Jahren ist Schlauch selbst gegen Wolfgang Schuster angetreten. „Ich würde es dem Fritz so sehr gönnen“, sagt Schlauch und blickt in die Zukunft. „So ein Wahlkampf ist eine Knochenmühle, noch ist der Fritz nicht im Ziel.“

Hinter dem Kandidaten der Grünen liegt lediglich eine Zwischenetappe. Fritz Kuhn ist wie alle anderen Kandidaten weit entfernt von jener absoluten Mehrheit, die ihn schon an diesem Abend zum Oberbürgermeister gemacht hätte. Er sagt nur leise Sätze, er stimmt nicht in das Triumphgeheul ein, mit dem er empfangen wird: „Es ist ein tolles Ergebnis, ich bin zuversichtlich, dass es in zwei Wochen gut ausgehen wird.“

Nur rund zwei Prozentpunkte liegt Fritz Kuhn vor seinem härtesten Konkurrenten Sebastian Turner, doch beim Empfang im Rathaus trennen sie Welten. Die Pressetraube hat sich wieder vor dem Aufzug versammelt, alle warten auf den Zweitplatzierten. Eben ist der gut gelaunte Hannes Rockenbauch vorbeigekommen, der von einem „genialen Ergebnis“ spricht und entspannt Hände schüttelt. Auch Bettina Wilhelm stellt sich den Fragen, eigentlich müsste sie ihr Abschneiden nicht kommentieren, ihr Gesichtsausdruck verrät, wie hart sie die Zahlen treffen. „Für mich persönlich ist es ein sehr enttäuschendes Wahlergebnis.“ Sie sagt, sie habe

gespürt, dass die Menschen in den vergangenen Tagen nur noch über ein Duell zwischen Fritz Kuhn und Sebastian Turner geredet hätten. Das habe ihr geschadet. Bettina Wilhelm will noch eine Nacht über das Ergebnis schlafen, bevor sie sich entscheidet, ob und wie es für sie weitergehen soll.

Eine halbe Stunde nach Fritz Kuhn steigt schließlich Sebastian Turner aus dem Aufzug im dritten Stock des Rathauses. Zunächst reagiert er nicht auf die Fragen, er müsse weiter, man erwarte ihn. Auch er lächelt, aber sein Lächeln wirkt wächsern, und schließlich zupft ihn sein Sprecher Stephan Schorn an der Schulter, was heißt, er möge doch kurz stehen bleiben. „Ich bin sehr zufrieden“, sagt Sebastian Turner endlich, es sei das erwartete spannende Kopf-an-Kopf-Rennen, und er freue sich darauf, nach dem zweiten Wahlgang neuer OB von Stuttgart zu werden. Er blickt in diesem Augenblick in die Kameras, als sehe er in einen Tunnel. Dann hat auch Turner den Großen Sitzungssaal erreicht und wird von Beifall empfangen, in den sich Aufmunterung und Trotz mischen.

Die vier aussichtsreichsten Kandidaten haben an diesem Sonntag noch einmal alles in Bewegung gesetzt: Am Tag der Wahl bietet Sebastian Turners Team einen Fahrdienst zum Wahllokal an, Hannes Rockenbauch ruft seine Anhänger per Facebook auf, auch ihre Bekannten zu erinnern, wer der Beste für Stuttgart sei. Und Bettina Wilhelms Wahlhelfer kleben an Tausende von Briefkästen kleine Erinnerungszettel: Wahltag – und bitte das Kreuz an der richtigen Stelle machen.

Alle wollen Wolfgang Schuster beerben, der seit knapp 16 Jahren im Chefsessel des Stuttgarter Rathauses sitzt. Bereits kurz nach der Schließung der Wahllokale wird klar, dass noch keine endgültige Entscheidung darüber fällt, wer ihm Anfang nächsten Jahres als vierter Oberbürgermeister in der Stuttgarter Nachkriegsgeschichte folgen wird. Vor den beiden Großleinwänden im Rathaus bilden sich Gruppen. Auf der rechten Seite die Anhänger von Turner, auf der linken die von Kuhn. Noch kurz nach 18 Uhr, es sind erst wenige Wahlbezirke ausgezählt, liegt Sebastian Turner knapp vorn. Aber mit jedem weiteren Wahlbezirk, der auf der Karte des Statistischen Amts erscheint, schmilzt dieser Vorsprung. Nach einer halben Stunde sind die Balken von ihm und Kuhn gleich hoch. Erstmals jubeln die Grünen: Werner Wölfle und Muhterem Aras fallen einander in die Arme. Die Jubelpose hat inzwischen schon Tradition.

Unterdessen ist auch Wolfgang Schuster von einem Termin in Dresden zurückgekehrt. Die ersten Zahlen kennt er schon, als er sich unter die Gäste der Wahlparty mischt. Es ist ein Tag, der für ihn einen weiteren Schritt auf seinem langsamen Abschied vom Amt markiert. Der Noch-Oberbürgermeister hat seinen Nachfolger oder seine Nachfolgerin schon längst per Briefwahl gewählt.

Im ersten Stock des Stuttgarter Rathauses wird er einen aufgeräumten Schreibtisch hinterlassen und am entgegengesetzten Ende seines Büros einen runden Tisch, an dem noch er selbst – aber bald ein anderer – die Gäste empfangen wird. Die Lederstühle hat Wolfgang Schuster vor 30 Jahren selbst ausgesucht, als er unter Manfred Rommel ein politischer Hoffnungsträger in der Stadt war. Als er selbst Stadtoberhaupt wurde, hat er sie behalten und rund um einen runden Holztisch gruppieren lassen.

Wenn er Anfang Januar 2013 die Geschäfte an einen neuen Hoffnungsträger übergeben wird, kann die Stadt den runden Tisch gut gebrauchen. Dennoch wird sich einiges ändern, nicht nur im Dienstzimmer des Oberbürgermeisters. In diesem hängen Fotos und Gemälde, die Wolfgang Schuster mit Bedacht ausgesucht hat. Die Auswahl verrät etwas über ihn. Vom runden Tisch aus blicken seine Besucher auf die Fotoserie einer spanischen Künstlerin, die während des Baus des Kunstmuseums entstanden ist. Der Würfel am Schlossplatz ragt als eines der Projekte heraus, die ohne Schuster womöglich im Stadtbild fehlen würden.

Das Gemälde eines türkischen Künstlers zeigt zahllose ineinander verschränkte Kreise, das Bild eines deutschen Malers soll hingegen mit geraden Strichen und Flächen die Geradlinigkeit des westlichen Denkens betonen. Die Kontakte in die Türkei, aus der Tausende von Stuttgarter Bürgern stammen, sind für Wolfgang Schuster eine Herzensangelegenheit. Die Integrationspolitik der Stadt ist oftmals ausgezeichnet worden. Diese Fäden wird derjenige weiterspinnen, der in diesem Zimmer mit Blick auf den Stuttgarter Marktplatz künftig die Richtung der Politik entscheidend mitbestimmen wird.

Vor dem Rathaus flattert am Wahltag die gelb-schwarze Fahne der Stadt mit dem Rössle. Im dritten Stock kümmert sich an diesem Nachmittag Franz Weber um die Technik, er lässt sich weder vom an- und abschwellenden Jubel noch vom Blitzlichtgewitter beeindrucken. Weber, 60 Jahre alt, ist ein Urgestein im Stuttgarter Rathaus. Seit 24 Jahren arbeitet er im Sitzungsdienst, ohne ihn würde an diesem Sonntag keine Wahlparty stattfinden, weil kein Fernsehton nach außen dringen und auf den Leinwänden hinter den Namen der OB-Kandidaten keine Prozentzahl stehen würde. Weber ist die technische Lebensversicherung.

Am Wahltag trägt er zum hellblauen Hemd eine in dezenten Goldtönen schimmernde Krawatte. Ihn könne nichts mehr aus der Ruhe bringen, seitdem bei einer Fernsehsendung aus dem Rathaus vor Jahren ein missmutiger Kandidat seinem Frust dadurch Ausdruck verlieh, dass er mit einer Axt das Übertragungskabel des SWR durchtrennte. „Da blieb das Bild anschließend halt schwarz.“

Eine vergleichbare Panne erlebt Franz Weber an diesem Tag nicht. Überhaupt sind die Dinge für den Rathaustechniker leichter geworden, seitdem moderne Beamer gewährleisten, dass die Gäste der Wahlparty auf einer Leinwand die aktuellen Ergebnisse sehen und auf der anderen das laufende Fernsehbild. Als Franz Weber seine Feuertaufe hatte, liefen die Ergebnisse aus den Wahlbezirken telefonisch im Rathaus ein, und die Präsentation im Rathaus erfolgte per Overheadprojektor. „In einer Ecke stand ein kleiner Fernseher“, erinnert sich Weber, der auch miterlebte, wie der Alt-OB Manfred Rommel eine kleine Kulturrevolution der Grünen im Handstreich erledigte. Die damals noch junge Partei stellte per Antrag die Forderung, dass künftig bei städtischen Veranstaltungen kein Wein mehr ausgeschenkt werden solle. Daraufhin, so erinnert sich Franz Weber, habe Rommel launig geantwortet: „Das nehmen wir zur Kenntnis, aber wir nehmen es nicht ernst.“

So unterhaltsam ist es im Stuttgarter Rathaus erst wieder geworden, als Heiner Geißler die Schlichtungsgespräche moderierte. Doch Geißler, sein blaues Schlichtersakko und seine Anekdoten sind Geschichte. Demnächst wird ein anderer Kopf im Licht der Kameras stehen, wenn aus dem Stuttgarter Rathaus heraus berichtet wird. Franz Weber stellt sich schon auf den nächsten Wahltermin am 21. Oktober ein: „Wegen mir können die Sender ihre Kabel gleich liegen lassen. In zwei Wochen kommen sie sowieso alle wieder.“