Im Endspurt um den OB-Sessel im Stuttgarter Rathaus bleibt die Fairness oft auf der Strecke. Momentaufnahmen aus dem Wahlkampf im Kessel.

Stuttgart - Der Auftritt bei der Liberalen Senioreninitiative ist ein Heimspiel für Sebastian Turner. Im Kickers-Clubrestaurant in Degerloch will der ehemalige Jugendspieler der „Blauen“ punkten. Hier hat er einst als Rechtsverteidiger die Stiefel geschnürt, ohne dass seine sportlichen Leistungen ihren Niederschlag in den Vereinsannalen gefunden hätten. Doch der Kandidat ist angeschlagen – gesundheitlich und politisch. Schon am Vormittag, als sein Wahlkampfmanager, der CDU-Kreisvorsitzende Stefan Kaufmann, eine härtere Gangart für die nächste Runde vorgegeben hatte, war Turner nicht bei Stimme. Ihm geht es um den Erfolg, für Kaufmann ums politische Überleben. Es gilt, der CDU den OB-Sessel zu retten.

 

Als Turner das Hinterzimmer der Vereinsgaststätte betritt, lauschen 18 liberale Senioren gerade andächtig den Ausführungen des FDP-Stadtrats Günter Stübel über den demografischen Wandel. Das Kratzen im Hals ist noch da, ein Kännchen Tee soll den Husten lindern. Der Kandidat kommt gleich zur Sache: Man müsse mehr tun für die Bildung und Ausbildung junger Migranten, sonst komme auf jeden Ruheständler bald nur noch ein Beitragszahler. „Wenn ich als OB in Rente gehe, ist das Verhältnis eins zu eins“, sagt Turner. Vor diesem Hintergrund erscheine die Frage des Stuttgart-21-Tiefbahnhofs „in der Dimension doch sehr klein“. Die Senioren applaudieren artig.

Dann reitet Turner die erste Attacke gegen seinen Konkurrenten. Kuhn wolle die Autofahrer mit einer Citymaut schröpfen. Freiheit oder Gängelung, lautet sein Wahlspruch. Das erinnert an die CDU-Wahlkampfparole von 1976. Damals hatten die Christdemokraten mit dem Spruch „Freiheit statt Sozialismus“ viele Stimmen gewonnen, die Wahl aber trotzdem verloren. Doch die Kampfansage ist ganz nach dem Geschmack der Zuhörer. „Es wird Zeit, die Samthandschuhe auszuziehen und die Boxhandschuhe überzustreifen“, kritisiert ein Liberaler den „weichgespülten Wahlkampf“. Einer der FDPler verliert bei Turners Versprechen, als OB die Genehmigungsabläufe im Baurechtamt beschleunigen zu wollen, vollends die Contenance: „Da müssen Sie eine Bombe reinschmeißen“, so sein Ratschlag an den Kandidaten. Das ist Turner doch zu deftig: „Wir sind uns im Ziel einig, aber nicht in der Wahl der Mittel.“ Und dann sagt er noch: „Wer aggressiv vorgeht, wird nicht gewinnen.“

Zwei Tage später ist Sebastian Turner wie ausgewechselt. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel ist auf den Marktplatz gekommen, um den parteilosen Unternehmer zu unterstützen. Sie ist die Erste einer ganzen Reihe namhafter Politiker der Regierungskoalition, die sich für Turner in die Bresche werfen. Aber auch SPD-Mitglieder wie Ex-VfB-Präsident Erwin Staudt wollen helfen, den Kandidaten ins Rathaus zu hieven. Sogar der Grünen-Dissident Oswald Metzger, der selbst gern irgendwo OB geworden wäre, hat für Turner Wahlkampf gemacht. Zuletzt hat sich der Bundesvorsitzende und Stadtrat der rechtslastigen „Republikaner“, Rolf Schlierer, für Turner ausgesprochen.

Dann fällt das Stichwort Bahnhof

Gekommen sind an diesem Tag Hunderte Turner-Sympathisanten – aber auch Hunderte von Stuttgart-21-Gegnern. Es ist Turners größter Auftritt im Wahlkampf, die Erkältung ist wie weggeblasen, und auch das Fairnessabkommen, das er Kuhn zu Beginn des Wahlkampfs offeriert hat, scheint vergessen. Die Gablenberger Big Band intoniert „Just a Gigolo“, bevor der Kandidat im Schlepptau von Merkel das Podium erklimmt. Stefan Kaufmann macht den Einheizer und geht Kuhn frontal an. „Wir brauchen keinen ausrangierten Berufspolitiker“, ruft der Parteichef mit sich überschlagender Stimme, „Stuttgart ist nicht der Abschiebebahnhof für altgrüne Ideologen.“

Das Stichwort Bahnhof ist gefallen. In der ersten Reihe der Zuhörer klatscht der bekennende Tiefbahnhof-Fan Pfarrer Johannes Bräuchle begeistert, als Turner ans Mikrofon tritt. Tatkräftig wie eh und je greift der Gottesmann ein, als ein Demonstrant ein Transparent gegen Turner entrollen will. Er werde bei Stuttgart 21 den Bürgerwillen umsetzen, donnert derweil der Kandidat ins Mikrofon, während ein Platzregen niedergeht. Die ohrenbetäubenden Buhrufe und Sprechchöre der Projektgegner quittiert er mit der Bemerkung, das sei „eine gute Vorbereitung auf das Amt“.

Dann knöpft sich Turner auf der überdachten Bühne erst den grünen OB-Aspiranten und dann die Grünen in der Landesregierung vor. Kuhn sei unglaubwürdig, weil er über Jahre für die Citymaut gekämpft habe und nun nichts mehr davon wissen wolle. Außerdem werde der Grüne die Parkgebühren anheben und Tempo 30 einführen – ein Horrorszenario nicht nur für ADAC-Mitglieder. Die Regierung Kretschmann plane die Einführung der Einheitsschule, erhöhe die Schulden und streiche Lehrerstellen: „Das alles brauchen wir im Rathaus nicht.“ Sein Sprecher Stephan Schorn ist da längst klatschnass. Schorn ist die Erschöpfung anzumerken, als er sagt: „Die nächsten Tage bringen wir auch noch rum.“

Fritz Kuhn bleibt den Bürgern auf den Fersen

Auch Fritz Kuhn muss aufpassen, dass ihm auf der Zielgeraden nicht die Puste ausgeht. „Viel trinken ist enorm wichtig“, sagt der Bundestagsabgeordnete. Es ist kalt an diesem Dienstagmorgen, auch Kuhns Stimme ist vom vielen Reden angekratzt. Er setzt in der Endphase des Wahlkampfs im Gegensatz zu seinem Kontrahenten nicht auf prominenten Beistand aus Berlin, sondern aus München: Der dortige OB Christian Ude (SPD) trifft sich mit Kuhn zum öffentlichen Plauderstündchen. Ansonsten macht Kuhn lieber klassischen Straßenwahlkampf. „Das direkte Gespräch mit dem Bürger liegt mir“, sagt er, während er am Rande des Wochenmarkts vor dem Rathaus seine Flyer verteilt. Kuhns großer Auftritt mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann liegt schon ein paar Wochen zurück, und auch er musste sich dabei Buhrufe und Pfiffe von Stuttgart-21-Gegnern gefallen lassen.

Der Grüne, das wird auf dem Marktplatz schnell deutlich, ist bekannt – bei Freund und Feind. „Hallo Herr Kuhn, viel Glück am Sonntag“, spricht ihn ein älterer Herr just vor jenem Marktstand an, wo Sonnenblumen verkauft werden. Das Parteisymbol der Grünen seit eh und je. Auch für die Wähler von übermorgen nimmt sich Kuhn Zeit und verteilt Äpfel an Kinder. Die freuen sich, doch es gibt auch andere Reaktionen. „Ich bin Autofahrer, mit den Grünen hab ich nichts am Hut“, grummelt ein Mann und weist den Kuhn-Prospekt brüsk zurück.



„Die Stimmung zwischen Turner und mir ist schon aggressiver geworden in den letzten Tagen“, sagt Kuhn. Auch manche Kuhn-Fans empfinden das so. Und damit meinen sie nicht nur die Rededuelle der beiden Kontrahenten oder die Anti-Kuhn-Kampagne der CDU. Sie waren bei Merkel und Turner auf dem Marktplatz und fanden, wie es eine Passantin formuliert, „das Krakeelen nicht so gut“. Kuhns Wahlhelfer sind sofort zur Stelle: „Das waren die Anhänger von Rockenbauch.“ Der Frontmann der S-21-Protestbewegung hatte seine Bewerbung für den zweiten Wahlgang zurückgezogen – eine Wahlempfehlung für Kuhn verkniff sich der SÖS-Stadtrat.

Beim Thema Stuttgart 21 tut sich der Grüne immer dann schwer, wenn er auf eingefleischte Projektgegner trifft. Gebetsmühlenartig wiederholt er, dass auch er das Ergebnis des Volksentscheids respektiere, verspricht aber im Gegenzug, der Bahn beim Bau des Tiefbahnhofs genau auf die Finger zu sehen. Doch den Kritikern ist das zu wenig, sie hätten gern, dass der neue OB dem Schienenkonzern auf die Finger klopft. „Ich wähle Sie, aber schweren Herzens“, sagt eine Frau, die den Kopfbahnhof-Button am Revers trägt, „wir wünschen uns mehr Druck von der Landesregierung.“ Kuhn will sich für seine Parteifreunde in der Villa Reitzenstein und im Verkehrsministerium nicht in Haftung nehmen lassen: „Ich bin nicht die Landesregierung.“

Langsam wird es warm auf dem Stuttgarter Marktplatz, und auch die Diskussionen werden hitziger. Der nächste Autofahrer beschwert sich beim grünen Bewerber über das unzureichende Parkplatzangebot in der Innenstadt: „Meine Frau kann mit den Strafzetteln, die sie bekommen hat, schon ihr Zimmer tapezieren.“ Der Kandidat Kuhn entgegnet, er sei kein Autofeind, wie von der CDU und Turner behauptet.

Schnell ist man wieder beim Thema Citymaut. Dass er die Zufahrt nach Stuttgart mit einer Gebühr belegen wolle, sei eine „unverschämte Unterstellung“ seines Konkurrenten und der CDU, sagt Fritz Kuhn. Es ist spürbar, dass ihn der Vorwurf der Unglaubwürdigkeit persönlich getroffen hat. Seine Wahlhelfer sind dennoch vorsichtig optimistisch, was den Wahlsonntag angeht. „Wenn wir es diesmal nicht schaffen, dann schaffen wir es nie“, sagt die Grünen-Regionalrätin Irmela Neipp-Gereke.

„Ich werde der Bahn nicht hinterherdackeln“

Am Abend heißt es wieder FKK – Fritz Kuhn kommt, diesmal ins Vaihinger Kinder- und Jugendhaus. Rund 50 Zuhörer wollen den Kandidaten sehen. Matthias Filbinger, der vor zwei Jahren aus der CDU ausgetretene Sohn von Ex-Ministerpräsident Hans Filbinger , begrüßt den Kandidaten. Filbinger junior macht jetzt Politik für die Grünen im Vaihinger Bezirksbeirat. Kuhn ölt die Stimme mit Bionade, während er über ökologisch orientierte Wirtschaftspolitik, die Förderung von Migrantenkindern, Bürgerbeteiligung und Stuttgart 21 spricht. „Ich werde der Bahn nicht hinterherdackeln und alles gut finden, was sie sagt“, verspricht Kuhn. Anders als der CDU-Landesvorsitzende Thomas Strobl, der für den Fall eines Kuhn’schen Wahlsieges den „Tod für Stuttgart 21“ vorausgesagt hatte, könne er aber nicht versprechen, dass er den Bahnhofsumbau stoppen werde: „Man kann nur das versprechen, was man selbst in der Hand hat.“

Auch der Grünen-Kandidat Kuhn legt jetzt die Samthandschuhe beiseite. Turner sei „ein Lügner“, wenn er behaupte, ein grüner OB werde die Citymaut einführen und stadtweit Tempo 30 anordnen. Er sei für eine abgestufte Geschwindigkeitsbegrenzung, Tempo 30 solle lediglich in Wohngebieten gelten. Zum Abschluss dann die Frage, ob es etwas gebe, was er an seinem Konkurrenten Turner schätze. Der Unternehmer sei schlau und intelligent, „aber er ist politisch nicht vom Fach“, antwortet der Kandidat und fügt hinzu: „Wir sind keine Freunde geworden.“