Das Stadtmuseum Sindelfingen zeigt, wie die Nationalsozialisten vor 80 Jahren in jeden Lebensbereich eingriffen.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Sindelfingen - Noch immer ist das Stadtmuseum in Sindelfingen geschlossen und noch immer arbeitet es unverdrossen daran, das Langzeitprojekt „Vor 80 Jahren – Sindelfingen im Krieg“ voranzutreiben. Jeden Monat wird ein Objekt oder ein Thema vorgestellt, das vor 80 Jahren wichtig war. Im Monat Januar geht es um die jährlichen Wehrversammlungen, mit denen der NS-Staat die Bevölkerung unter die Lupe nahm.

 

In der Sindelfinger Zeitung vom 16. Januar 1941 findet sich eine groß aufgemachte Bekanntmachung unter der Überschrift „Aufruf zur Teilnahme an Wehrversammlungen im Bereich des Wehrmeldeamts Böblingen“. In einer langen Liste sind für alle damaligen Kreisgemeinden Orte aufgeführt, an denen sich zu festgelegten Uhrzeiten „alle gedienten Angehörigen der Jahrgänge 1900 und jünger“ einzufinden haben.

Die Betroffenen mussen in den Saalbau kommen

Die betroffenen Sindelfinger und Angehörige weiterer Kreisgemeinden mussten am Mittwoch, 22. Januar, 1941 in den städtischen Saalbau kommen. Das war die damalige Festhalle, die an der Stelle der heutigen Stadtbibliothek stand. Für die betroffenen Mitarbeiter des Daimler-Benz-Werks waren eigene Termine in der Werkskantine vorgesehen.

Hintergrund für diese auffällige Bekanntmachung war das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935, das im Paragrafen 19 „Wehrüberwachung“ die jährliche Abhaltung von Wehrversammlungen vorschrieb. Das Wehrgesetz und die Wehrversammlungen war einer von vielen Bausteinen, mit denen der NS-Staat eine lückenlose Erfassung und Überwachung der gesamten Bevölkerung anstrebte. Bereits kurz nach dem Erreichen des Schulalters sollten die Kinder in die Hitlerjugend eintreten. Die Mitgliedschaft war zwar formell freiwillig, wer es jedoch nicht tat, der musste mit Repressalien und Nachteilen, beispielsweise bei der Suche nach Lehrstellen, rechnen.

Auch Frauen mussten zum Arbeitsdienst

Zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr konnten Männer vor dem Wehrdienst zu einem sechsmonatigen Arbeitsdienst einberufen werden, mit Beginn des Krieges wurde die Arbeitsdienstpflicht auch auf die Frauen ausgeweitet.

Der 1935 per Gesetz eingeführte Reichsarbeitsdienst diente der vormilitärischen Ausbildung und der propagandistischen und disziplinarischen Vorbereitung auf den Wehrdienst. Im Stadtarchiv befindet sich ein Buch aus der Schülerbücherei der Adolf-Hitler-Schule Sindelfingen, dem heutigen Goldberg Gymnasium. Dort wird die Arbeit des Reichsarbeitsdienstes in martialischen Worten beschrieben, ein Kultivierungsprojekt an der schleswig-holsteinischen Küste etwa wird unter dem Titel „Kampf an der Westküste“ geschildert.

Die heutige Geschichtsschreibung geht davon aus, dass der Reichsarbeitsdienst in erster Linie als Disziplinierungsinstrument genutzt wurde, und weniger eine wirtschaftliche Bedeutung hatte. Aus heutiger Sicht sind viele Projekte, die damals unternommen wurden, auch ökologisch widersinnig, wie etwa die Entwässerung von Moorgebieten. Damals aber lag die Priorität auf der Gewinnung von Ackerland, um die Bevölkerung während der Kriegszeit versorgen zu können.

In der Reihe „Vor 80 Jahren – Sindelfingen im Krieg“ entstehen 69 Beiträge, die monatliche Blitzlichter auf die Zeit von September 1939 bis Mai 1945 werfen und das damalige Geschehen auf lokaler Ebene lebendig werden lassen.

Die Objekte werden zur Zeit in den Schaukästen vor dem Stadtmuseum gezeigt. Darüber hinaus werden auch Erinnerungsorte einbezogen und, begleitend zum Projekt, Gespräche mit Zeitzeugen geführt und aufgezeichnet.