André Spitzer war 27 und Trainer der israelischen Fechtmannschaft bei den Olympischen Spielen 1972 in München. Mit seiner Frau Ankie und der kleinen Tochter lebte er in den Niederlanden. Das Paar unterbrach den Aufenthalt in München, weil das Kind daheim, von der Oma betreut, ins Krankenhaus musste. Spitzer verpasste seinen Zug zurück zu Olympia, doch seine Frau drückte aufs Gas, so konnte er einige Stationen später noch zusteigen.
Kurz nach Mitternacht traf er im Quartier in der Connollystraße 31 im Olympiadorf ein. Vier Stunden später wurde er von den palästinensischen Terroristen als Geisel genommen, 24 Stunden danach war er tot. Ermordet von den Geiselnehmern wie zehn weitere israelische Athleten und Trainer. Zudem kamen fünf Terroristen und ein deutscher Polizist bei der völlig missglückten Befreiungsaktion am Militärflugplatz in Fürstenfeldbruck bei München ums Leben.
Niemand hat sich entschuldigt
Jetzt beklagt Ankie Spitzer: „Bis heute, 50 Jahre später, hat keiner mal gesagt: ‚Es tut uns leid. Wir haben falsch entschieden. Wir waren inkompetent.‘“ Immerhin das hat sich mittlerweile geändert: Es seien damals massive Fehler gemacht worden, sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) am Sonntag bei einem Podiumsgespräch in München, am Vorabend des 50. Jahrestages. Er fügte hinzu: „Da müssen wir auch um Entschuldigung bitten.“ Zum Gedenken an den Terrorakt reisen an diesem Montag Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Israels Staatspräsident Izchak Herzog nach Fürstenfeldbruck.
Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelischen Kultusgemeinde München und Oberbayern verwies am Sonntag auf das Schicksal des getöteten Polizisten - und warf damit ein Schlaglicht auf den gesamten Einsatz der Sicherheitskräfte, der im Nachhinein als dilettantisch und fehlerhaft bewertet wurde. Die Attentäter um ihren Anführer, der sich „Issa“ nannte, wollten nach gegenwärtigem Kenntnisstand 232 Palästinenser freipressen, die in Israel in Gefängnissen saßen, sowie die in Deutschland festgesetzten RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof.
Die Terroristen hatten nach zähen Verhandlungen erreicht, dass sie und neun Geiseln mit Hubschraubern nach Fürstenfeldbruck fliegen konnten. Dort wollten sie in eine Maschine umsteigen, um nach Kairo zu reisen. Die Polizei hoffte jedoch, die Gefangenen bei der Gelegenheit zu befreien. Im Einsatz war auch der junge Beamte, der später im Kugelhagel ums Leben kam. „Dieser arme Polizist ist mit einer lächerlichen Waffe auf das Dach gestellt worden“, sagte Knobloch.
Scharfe Kritik am Vorgehen der Sicherheitskräfte übte auch der Journalist Uwe Ritzer, der mit seinem Kollegen Roman Deininger die Geschehnisse in einem Buch aufgearbeitet hat, „Die Spiele des Jahrhunderts. Olympia 1972, der Terror und das neue Deutschland“. Er verwies unter anderem auf Großlagen wie einen Brandanschlag auf das Seniorenheim der Israelitischen Kultusgemeinde (ikg) in München im Jahr 1970 oder einen Banküberfall mit Geiselnahme 1971, bei dem eine Geisel starb. Trotz dieser Erfahrungen habe man auf eine unfassbar sträfliche Art und Weise sich nie ein Konzept überlegt, wie man diese Mannschaften, insbesondere die israelische, schützen könne, sagte Ritzer. Das Blutbad auf dem Flugplatz in Fürstenfeldbruck sei an Planlosigkeit nicht zu überbieten gewesen.
Um eine finanzielle Anerkennung ihres Leids und eine Entschuldigung haben die Hinterbliebenen seitdem gerungen. Weil die Verhandlungen stockend verliefen, wollten sie das Gedenken eigentlich boykottieren. Erst als die Bundesregierung eine Entschädigungszahlung in Höhe von 28 Millionen Euro zusicherte, sagten sie ihr Kommen zu.
Ursprünglich hatte man 5,5 Millionen Euro angeboten, zusätzlich zu den bereits 4,5 Millionen gezahlten Euro für 23 unmittelbare Angehörige, also Witwen und Kinder. Die Hinterbliebenen empfanden das als „Beleidigung“. Schließlich seien die Morde keine Unglücksfälle gewesen, sondern durch Behördenversagen verursacht.
Connollystraße 31, der Ort der Geiselnahme: Es ist heute ein ganz normales, länger gezogenes Haus im Olympiadorf, vier Stockwerke hoch, Flachdach. Die Straße ist autofrei wie überall in dem Ensemble. Neben der Eingangstür steht eine marmorne Gedenktafel mit den Namen der Opfer in lateinischer Schrift und auf Hebräisch. Das Gebäude wird heute als Gästehaus der Max-Planck-Gesellschaft genutzt.
Himmelfahrtskommando
Sehr am Herzen liegt vielen Hinterbliebenen und Überlebenden die historische Aufarbeitung. Herrmann betonte den Wert dieser Arbeit durch Experten aus Deutschland und Israel. Allerdings: Einige Akten sind wohl noch unter Verschluss, die Erfahrung machten zumindest Ritzer und Deiniger. Herrmann versprach prompt Hilfe: „Wir haben nichts zu verbergen“.
Es war ein rabenschwarzes Geschehen, das sich über 20 Stunden hinzog – für die Opfer und deren Angehörige, für Israel, München, Deutschland und die ganze Welt. In Fürstenfeldbruck sollten sich Polizisten als Technik- und Flugpersonal tarnen und die Attentäter überwältigen. Doch die Beamten bekamen Angst und verließen die Boeing 727, bevor Entführer und Geiseln eintrafen. Die Rolle dieses Freiwilligentrupps ist umstritten: Wurden sie lange Zeit als Feiglinge angesehen, so hat zuletzt der beteiligte Guido Schlosser, ein damals 21-jähriger Streifenpolizist, die Sicht auf das Geschehen wesentlich verändert. Im Flugzeug stellten die Polizisten fest, dass es viel zu eng sei, um die Terroristen kampfunfähig zu machen, also notfalls zu erschießen. Allesamt waren sie nie für einen solchen Einsatz ausgebildet gewesen. Und als der Einsatzleiter von einem Himmelfahrtskommando sprach, brachen sie die Aktion ab.
Der Trainer André Spitzer hatte wie acht weitere israelische Athleten zu diesem Zeitpunkt noch gelebt. Zwei Angehörige des Teams waren schon bei dem Überfall auf das Quartier im olympischen Dorf, der um 4.10 Uhr begonnen hatte, erschossen worden – der Gewichtheber Josef Romano und der Trainer Mosche Weinberg. Bei den Verhandlungen mit den Entführern bot sich Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) als Geisel an, wenn die Sportler freigelassen werden. „Issa“ lehnte ab.
Polizei eröffnet Feuer
Nachdem die Täter und die Opfer in zwei Bundesgrenzschutz-Hubschraubern nach Fürstenfeldbruck geflogen kamen, inspizierte Anführer „Issa“ mit seinen Leuten das angebliche Fluchtflugzeug. Die leere Maschine ohne Besatzung machte sie misstrauisch, sie gingen zurück zu den Hubschraubern. Da eröffneten die Truppen von der Münchner Polizei und der bayerischen Grenzpolizei das Feuer – zu dem Zeitpunkt war es 22.38 Uhr.
2012 kam Henry Hershkovitz noch einmal nach München, da war er 85 Jahre alt. Insgesamt sieben Ex-Athleten und -Betreuer aus der israelischen Olympiamannschaft von 1972 reisten damals an, 40 Jahre danach. Sie gehören zu jenen, die es nicht erwischt hatte als Geiseln, die im Glück waren. Das Apartment, in dem Hershkovitz und andere untergebracht waren, hatten die Terroristen nicht bemerkt.
Hershkovitz – Schnauzbart und streng zurückgekämmte, graue Haare – war damals Sportschütze und Fahnenträger der Mannschaft. Ein kleines, stolzes Team lief im Olympiastadion auf, im Land der einstigen Holocaust-Mörder. Sie stießen auf ein neues, friedliches und fröhliches Deutschland. Daheim in Tel Aviv arbeitete er als Uhrmacher.
Jeder kam ins olympische Dorf
Die Athleten hatten Zutrittsausweise für das olympische Dorf, doch Kontrollen gab es keine. Hershkovitz hatte sogar einmal sein Gewehr mitgebracht, um es zu reinigen. Dass das verboten war, wusste er nicht. Jeder, der einen Trainingsanzug anhatte, kam problemlos rein, wurde später berichtet. Auch das Terrorkommando Schwarzer September.
In der Dunkelheit begann das Desaster auf dem Militärflughafen Fürstenfeldbruck. Fünf Polizeischarfschützen waren postiert – normale Streifenbeamte. Sie hatten wenig geeignete Sturmgewehre. Die fünf Schützen waren auf fünf Terroristen vorbereitet gewesen. Dass es sich aber um acht handelte, war nicht gemeldet worden. Mit den ersten Schüssen war nur ein Terrorist auf dem Rollfeld getroffen worden. Die anderen verschanzten sich hinter den Hubschraubern.
Um 22.39 Uhr erhielten die Polizisten von der Einsatzleitung den Befehl zum Dauerfeuer. Die Terroristen schossen zurück. Doch die Polizisten hatten keinen Funkkontakt zueinander, das Feuer verlief unkoordiniert. Es waren keine gepanzerten Polizeifahrzeuge vor Ort zur Hilfe, diese wurden erst während des Gefechts angefordert. Tausende Schaulustige versperrten die Zufahrt zum Flughafen. Um 0.10 Uhr feuerte ein Terrorist auf die Geiseln in dem einen Hubschrauber, dann warf er eine Granate in den anderen. Alle Geiseln wurden getötet, drei Terroristen ergaben sich.
Mossad wurde nicht informiert
Ankie Spitzer, die Witwe des ermordeten Fechttrainers, kritisiert: Während des Attentats seien hochrangige Spezialisten des israelischen Geheimdienstes Mossad in München gewesen und wollten bei der Befreiung helfen. Sie seien nicht informiert worden.
Aus heutiger Sicht ist es nahezu unvorstellbar, wie gering die Sicherheitsvorkehrungen waren. Eindringliche und konkrete Warnungen gab es damals schon, etwa vom Münchner Polizeipsychologen Georg Sieber. Anschläge von Palästinensern und Terrorvertretern anderer Volksgruppen ereigneten sich zu dieser Zeit sehr häufig.
Die drei überlebenden Terroristen mussten nur knapp zwei Monate in Deutschland im Gefängnis ausharren. Am 29. Oktober 1972 entführten weitere palästinensische Terroristen eine Lufthansa-Maschine mit dem Ziel, die drei freizupressen. Die Bundesregierung gab nach, die Täter wurden nach Libyen geflogen und dort als Helden gefeiert.
Die Spiele gingen weiter
Am Tag nach dem Attentat, dem 6. September 1972, wurden die Olympischen Spiele ausgesetzt, im Stadion fand eine Trauerfeier statt. Dann sagte Avery Brundage, damaliger Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), den bekannten Satz: „The games must go on“, die Spiele müssen weitergehen.
Am 7. September flogen fast alle israelischen Athleten nach Hause – die Überlebenden wie Henry Hershkovitz und die Ermordeten in elf Särgen, in weiße Tücher mit dem blauen Davidstern gehüllt. Hershkovitz arbeitete bis an sein Lebensende als Uhrmacher in seinem Laden in Tel Aviv. Vor wenigen Monaten, am 12. März 2022, ist er im Alter von 95 Jahren gestorben.