Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)


Online-Sucht - das heißt, dass der Umgang mit dem "www" außer Kontrolle geraten ist, verbunden mit den von anderen Süchten bekannten Folgen, einer körperlichen und psychischen Abhängigkeit und einer zunehmenden Unfähigkeit, am "normalen" Leben teilzuhaben.

Nach aktuellen Studien sind 70 Prozent der Deutschen zumindest gelegentlich im Netz, unter den Schülern sind es gar 98 Prozent. Das Bundesgesundheitsministerium schätzte 2009, dass zwischen drei und sieben Prozent der Online-Nutzer süchtig seien, ebenso viele gelten als gefährdet. Bei einer aktiven Nutzerzahl von damals etwa 40 Millionen bis zu 2,8 Millionen Menschen. Manche Kritiker fürchten, dass Online-Sucht die Zivilisationskrankheit des digitalen Zeitalters werden könnte.

Online-Spieler wehren sich gegen Panikmache, verweisen auf positive Effekte und beklagen Pauschalisierungen. Viele Dinge könnten süchtig machen, aber die wolle niemand verbieten, Fernsehen zum Beispiel. Der Computer sei einfach Teil der Freizeit geworden, was per se nicht bedenklich sei. Die Computerspielindustrie bezeichnet das Problem nicht als Sucht, sondern spricht von "exzessiver Nutzung" oder "problematischem Konsumverhalten".

Elterninitiative warnt vor medialem Overkill


Es greift um sich, sagt Christoph Hirte. Er sitzt in einem Keller vor den Toren Münchens und organisiert den Widerstand von seinem Arbeitszimmer aus. In Gräfelfing lebt Familie Hirte in einem Reihenhaus. "Rollenspielsucht.de", heißt ihre Elterninitiative, die seit 2007 vor einem medialen Overkill warnt. 2008 haben sie den Verein Aktiv gegen Mediensucht gegründet, fast 700.000 Nutzer haben sich bereits auf ihrer Homepage informiert.

Die Hirtes halten Vorträge, sie reisen durch ganz Deutschland, sie sprechen über die Gefahren des Internets, über den Missbrauch, sie wollen aufklären, helfen und anleiten. Das Ehepaar fordert einen anderen Umgang mit den Neuen Medien, und es geht auf Konfrontationskurs zur gängigen Pädagogik, die rät, Kinder anzuleiten. So spät ins Netz wie möglich, sagen die Hirtes. "Unsere Gesellschaft hat ein Problem, und die Politik schaut weg", sagt Christoph Hirte: "Das Problem wird kolossal verharmlost. Und wenn was ist, heißt es, dass die Eltern versagt haben."

Die Hirtes hatten ihren Sohn an das Internet verloren. Vor drei Jahren haben sie ihn das letzte Mal gesehen. Hirte junior zog aus, um zu studieren, dann verfiel er "World of Warcraft", dem bekanntesten Rollenspiel. Erst meldete er sich seltener, irgendwann gar nicht mehr. Als es in seiner Wohnung einen Wasserschaden gab, offenbarte sich dem Vermieter eine verwahrloste Wohnung. "Wir waren fassungslos", sagt Christine Hirte: "Wir kannten Sucht doch nur von Drogen und Alkohol."