Update: Stefan Gieren ist mit 17 aus seinem Heimatort Donzdorf abgehauen und ging nach Hollywood. Dieses Jahr war er für den Oscar nominiert, ging aber leer aus.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Donzdorf/Los Angeles - Es ist einer jener Nachmittage in Los Angeles gewesen, die diesig über der Stadt hängen. Ich war auf dem Weg zum Samuel Goldwyn Theatre – eine schier endlose Fahrt auf dem Wilshire Boulevard von Ampel zu Ampel, in Schlangenlinien vorbei an tiefen Schlaglöchern. Ich fragte mich, ob es Smog war oder Nebel, der die Straßenzüge einlullte, als säße man unter einer großen milchigen Glocke.

 

Ich fuhr damals, im Frühsommer vergangenen Jahres, zur Verleihung der Studentenoscars und hatte den Auftrag, für ein deutsch-amerikanisches Magazin über die Veranstaltung zu berichten. Dort sollte ich jemandem begegnen, der mit mir einst zur Schule gegangen war – in Donzdorf, einer Kleinstadt am Rande der Schwäbischen Alb. Stefan Gierens Film „Raju“ würde den Studentenoscar bekommen.

Im gigantischen Kinosaal leuchteten die samtenen Sitze weinrot, eine große goldene Oscarstatue vor der Leinwand zog die Blicke auf sich. Am frühen Nachmittag war der Saal noch fast leer, junge Frauen in Turnschuhen schritten eilig durch die Gänge, auf ihren Köpfen trugen sie Headsets, wie man sie aus Filmen kennt, sie murmelten mit starrem Blick in die Mikros.

Journalisten und nominierte Filmstudenten trafen nach und nach im Kinosaal ein, schüttelten einander die Hände, lachten, taten das, was Amerikaner perfektioniert haben: Smalltalk. „So good to be here!“ „The traffic’s craaa-zy!“ Einige trugen Anzüge oder Abendkleider. Stefan Gieren war extra aus Hamburg angereist. Damals ahnte er noch nicht, dass das alles nur eine Generalprobe sein würde: für die richtige Oscarverleihung am 26. Februar 2012.

Vielleicht wollte er aussehen wie Kurt Cobain

Der Weg von Donzdorf nach Los Angeles dauerte 15 Jahre. So lange hatte ich Stefan Gieren nicht mehr gesehen. Zuletzt war er, 17-jährig, als Orwar in der Mitte unserer Schulaula im Donzdorfer Rechberg-Gymnasium gestanden. Wir probten mit der Theater AG. Astrid Lindgrens „Die Brüder Löwenherz“ sollte aufgeführt werden. Wir Unterstufenschüler schauten meist nur, am Rand sitzend, stillschweigend zu, bis wir etwa jede halbe Stunde durchs Bühnenbild rennen oder einen Satz sagen sollten.

Orwar, der Freiheitskämpfer, stand vorne im spartanischen Bühnenbild, auf einer schrägen schwarzen Bretterebene, schob die Brust raus und riss die Arme in die Höhe: „Kampf! Freiheit!“ Stefan Gierens Stimme war tief und laut, er trug die dunkelblonden Haare schulterlang und zerzaust, sein Blick war meist ernst. Vermutlich wollte er ein bisschen so aussehen wie Kurt Cobain, der Sänger der Rockgruppe Nirvana. Stefan Gieren trug verwaschene T-Shirts von Bands wie The Cranberries, Pearl Jam, oder Ugly Kid Joe und stand in jeder großen Pause in der Raucherecke.

Jetzt, anderthalb Jahrzehnte später, schüttelte ich im Kinosaal des Samuel Goldwyn Theatres in Beverly Hills einem Stefan Gieren die Hand, der die Haarpracht von früher mittlerweile zu einer ordentlichen Frisur gestutzt hatte, der einen Anzug und eine Krawatte trug, professionell mit einigen Journalisten plauderte und ständig freundlich lächelte. „Wir wollten ein sozial relevantes Projekt machen“, sagte er. Oder: „Wir haben im Zuge des Erdbebens von Haiti von illegalen Auslandsadoptionen erfahren, und wir hatten die Idee, dann eine Geschichte über so einen Fall in Indien zu drehen.“

Über Nacht erfolgreich

2010 flog Stefan Gieren zusammen mit seinen Kommilitonen von der Hamburg Media School nach Kalkutta. Für ihren Abschlussfilm konnten die Studenten überraschend die renommierten Schauspieler Wotan Wilke Möhring und Julia Richter gewinnen, die ein Paar spielten, das einen kleinen Jungen aus den indischen Slums adoptieren möchte. Nach und nach erfahren die beiden Protagonisten, dass es sich bei Raju nicht um einen Waisen, sondern um ein verschlepptes Kind handelt. Sie fragen sich: Ist es dennoch richtig, den Jungen mit nach Deutschland zu nehmen? Ihm eine Perspektive zu geben? Oder muss man ihm eine Chance vor Ort ermöglichen?

Der 20-minütige Kurzfilm „Raju“ wurde über Nacht erfolgreich, so kann es gehen in Hollywood: An diesem Abend im Samuel Goldwyn Theatre verkündete die amerikanische Schauspielerin Jennifer Garner die Gewinner des Studentenoscars – und die deutschen Macher von „Raju“ jubelten. Regisseur Max Zähle bedankte sich filmreif am Mikrofon, auch bei seinem Produzenten Stefan Gieren. Der winkte lässig ins Publikum. Der stark klimatisierte Kinosaal taute langsam auf: tosender Applaus für die talentierten deutschen Filmemacher, Blitzlichter auf der Bühne. Stefan Gieren und Max Zähle wurden später auf RTL interviewt, in der „Tagesschau“ erwähnt und in vielen Zeitungsartikeln zitiert.

Am Ende jenes Abends in Los Angeles trafen sich alle Gewinner im Renaissance Hotel an der Ecke Hollywood and Highland. In der Panorama Suite im obersten Stockwerk des hohen Gebäudes wurde die Afterparty gefeiert. Ein großer Flügel stand mitten im Raum, niemand spielte darauf. In kleinen Grüppchen standen die Gewinner zusammen und tranken Champagner. Stefan Gieren schaute durch die riesige Fensterfront auf die unzähligen bunten Lichter. Das war sie also: die glamouröse Glitzerwelt Hollywoods. Ein endloser leuchtender Straßendschungel unter uns. Wo fängt diese Stadt an, wo hört sie auf? fragte sich Stefan Gieren.

Die Flucht aus der schwäbischen Provinz

Und ich erinnerte mich. Es muss irgendwann im Frühjahr 1997 gewesen sein, als uns die Religionslehrerin erzählte, ein Oberstufenschüler unseres Donzdorfer Gymnasiums sei zusammen mit seiner Freundin abgehauen. „Den beiden war es wohl zu eng hier, sie wollten raus, vielleicht in die Großstadt“, mutmaßte unsere Lehrerin und blickte in die schweigsame Runde. Mir war sofort klar: Stefan Gieren ist durchgebrannt. Die Religionslehrerin wollte nun mit uns darüber sprechen, warum es schwer sei, erwachsen zu werden. Ich hörte nicht richtig zu, gab vor, nicht interessiert zu sein, obwohl ich eigentlich verwirrt war. Was hatte das zu bedeuten? Stefan Gieren kehrte nie mehr ans Rechberg-Gymnasium zurück. Wohin er gegangen war, wusste niemand.

Erst jetzt, in Hollywood, erfuhr ich: Gieren kommt bis heute regelmäßig nach Donzdorf, um seine Eltern zu besuchen. Zu seinen einstigen Schulfreunden hat er aber keinen Kontakt mehr. Jahrelang ist er durch Europa gereist, lebte dann in Bayern und holte das Abitur nach. Anschließend ging er nach Hamburg, wo er Medientechnik und Filmproduktion studierte. Stefan Gieren gründete einen Bildungsfernsehsender in Afghanistan. Und er hat im Alter von 32 Jahren schon drei Kinder.

Er erzählte: Mit 17 habe er sich in mancher schlaflosen Nacht vorgestellt, wie er eines Tages mit einem Oscar in der Hand in die Donzdorfer Theaterprobe stürmen würde. Er hatte nie mehr an diesen Traum gedacht. Erst, als er sich von Hamburg nach Los Angeles aufgemacht hatte, um den Studentenoscar zu gewinnen, war er ihm wieder eingefallen. Stefan Gieren lachte, wir prosteten uns zu. Unsere gemeinsame Heimatstadt Donzdorf war uns noch nie so fern und so nah zugleich gewesen.

In einer Reihe mit George Clooney

Wie ging es nach dem Studentenoscar weiter? Stefan Gieren flog nach Afghanistan und übernahm dort im vergangenen Sommer sein erstes Regieprojekt. Zurzeit ist er in Leipzig und produziert einen Thriller, der im Herbst in die Kinos kommen soll. Der Filmemacher hat viel zu tun.

Im Januar erfuhr Gieren, dass „Raju“ nun auch für einen richtigen Oscar nominiert ist: Der Film sei im Rennen um den Academy Award in der Kategorie „Live Action Short Film“. Zwei Wochen später flog Gieren mit Max Zähle nach Kalifornien: Mittagessen mit allen Oscarnominierten, anschließend ein gemeinsames Foto von den Anwesenden: Eine Reihe vor Gieren stehen George Clooney, Jean Dujardin und Glenn Close. Ganz hinten sieht man Regisseur Max Zähle, ein paar Plätze neben Brad Pitt und Meryl Streep.

Bei der Oscarverleihung am Sonntag werden Stefan Gieren und seine Crew ein straffes Programm haben. Zu viert wollen die „Raju“-Macher über den berühmten roten Teppich vor dem Kodak Theatre am Hollywood Boulevard schreiten: Neben dem Produzenten und dem Regisseur haben der Kameramann Sin Huh und der Hauptdarsteller Wotan Wilke Möhring Karten zur Verleihung bekommen.

Hollywood – ein Ort der Kontraste

Für Stefan Gieren wird es eine lange, rauschende Nacht werden. Anders als vor acht Monaten: Bei der Afterparty der Studentenoscars gingen schon kurz nach Mitternacht die Lichter aus. Auch das war typisch für Hollywood, der Stadt, in der es alle ganz nach oben schaffen wollen, dem Ort der großen Kontraste. Nirgendwo auf der Welt liegen Schlaglöcher und Schlaglichter so eng nebeneinander wie hier.

Los Angeles wird von der Sonne verwöhnt, man sieht sie nur nicht immer. Vielleicht zeigt sie sich für Stefan Gieren mitten in der Oscarnacht. Ich drücke die Daumen.