Statt über ihren grandiosen Lauf spekulierte die Weltpresse über die intimsten Details von Caster Semenyas Körper: Zum Auftakt der Olympischen Spiele in London sind die Augen auf Südafrikas Läuferin gerichtet. Sie hat überlebt.

Stuttgart - Der kürzeste Weg in die Hölle ist achthundert Meter lang, und wer den Kopf unter den Arm nimmt und losrennt, kann schon in einer Minute, fünfundfünzig Sekunden und 45 Hundertstelsekunden am Ziel sein.

 

Wie heiß es dort ist? Wie weh es tut, wenn einen der Teufel da drunten auf seine glühende Herdplatte setzt? Welche Wunden bleiben zurück? Welche Narben? Und wie schaut der Teufel drein, wenn er dreckig grinst?

Man muss Caster Semenya fragen.

Das heißt, nein, man kann es bleiben lassen. Sie hat jahrelang dazu so gut wie nichts gesagt, und manchmal noch weniger. Interviews gibt sie kaum, und wenn, sagt sie Dinge wie: „Mein Plan ist der Olympiasieg, sonst nichts.“ Bei der Eröffnungsfeier geht es jetzt los: Sie trägt die Fahne Südafrikas ins Londoner Stadion.

Caster Semenya hat überlebt. Sie nimmt den Faden dort wieder auf, wo sie ihn vor drei Jahren hat fallen lassen, ehe der Teufel sie in sein Fegefeuer schubste. Weltmeisterin über 800 Meter ist sie damals in Berlin geworden, mit 18, ein scheues, großes Mädchen aus einem staubigen Dorf namens Ga-Masehlong, und sie wollte eigentlich ausgelassen feiern und glücklich sein – doch dann haben wichtige Leute vom Leichtathletikverband ihr gesagt: Du darfst nicht zur Pressekonferenz. Denn dort hätte in allen Varianten die schlimmste Frage gewartet, die an eine 18-jährige Weltmeisterin gestellt werden kann: Bist du ein Mann?

Ihre Seele hat keinen mehr interessiert

Ja, sie lief männlich. Sie sprach maskulin. Sie war muskulös gebaut. Sie war einen Kopf größer als die meisten Gegnerinnen, breite Schultern, gewaltiger Bizeps, der Gesichtsausdruck härter und herber, und statt über ihren grandiosen Lauf spekulierte die Weltpresse schlagartig über die intimsten Details ihres Körpers.

Ihre Seele hat keinen mehr interessiert. Und weil sie nichts dazu sagte, weiß keiner, wie sie es schaffte, die folgenden zwei Jahre zu überstehen. Eine Hormonbehandlung ließ sie über sich ergehen, elf Monate war sie gesperrt. Hektisch wurde in jener Zeit die offenkundig komplizierte Zusammensetzung ihrer geschlechtsbestimmenden Chromosomen erforscht – und am Ende entschied der Weltverband der Leichtathletik auf Freispruch, wobei er das Urteil der Ärztekommission in die Worte fasste: „Die medizinischen Einzelheiten des Falles bleiben streng vertraulich.“

Seither darf Caster Semenya wieder starten als das, was sie immer von sich behauptet hat: „Ich bin ein Mädchen.“

Frau oder Mann, diese sensible Frage ist ungefähr so alt wie der Sport, der diesbezüglich allerlei Dramen und Tragödien kennt – beim Rückblick auf die Zeiten, als es noch keine Geschlechtstests gab, wird in Einzelfällen bis heute gerätselt, wer Opfer war und wer Täter, oder beides.

Ratjen verlor alle Titel und Rekorde

Dora Ratjen bringen wir am besten schnell hinter uns. Sie stand, 17 Jahr, langes Haar, anno 36 in Berlin bewusst ihren Mann für Deutschland, beim Hochsprung. Weil sie sich die Beine rasierte und beim Duschen nie ganz nackt zeigte, merkte keiner, was los war. Auch nicht beim Sport, denn geschickt band sich Ratjen unter der Sporthose die Genitalien nach oben. Wusste es die Reichssportführung? Nach dem Krieg erzählte die Sportskanone, nur drei Jahre als Frau gelebt zu haben – und von den Nazis dazu gezwungen worden zu sein. Die Wissenschaft glaubt das nicht. Ratjen, sagen die Historiker, habe genau gewusst, was er als Dora in Berlin 36 tat, oder 1938 in Wien, als er mit der Weltrekordhöhe von 1,70 Meter Europameisterin wurde – bei der Rückreise wurde er auf dem Magdeburger Bahnhof aus dem Zug geholt, bei der Leibesvisitation genügte ein Blick zur Verhaftung. Ratjen verlor alle Titel und Rekorde, das Tragen von Frauenkleidern wurde ihm verboten, und als Heinrich Ratjen schenkte er in der elterlichen Wirtschaft in Bremen den Gästen fortan das Bier ein.

Mit der Hölle macht Caster Semenya keiner mehr Angst

Nicht vergessen wollen wir auch Irina und Tamara Press. Vor den sowjetischen Schwestern war in den 60er Jahren kein Rekord sicher, und nach ihren Olympiasiegen wollten sie 1966 auch noch Europameister werden – doch über Nacht wurde plötzlich der Geschlechtstest eingeführt. „Jetzt schon?“, soll ein panischer Moskauer Funktionär telefonisch nachgefragt haben, und die Press-Schwestern wurden überstürzt zurückgezogen, ihre Oma war jäh erkrankt. Danach sind Tamara und Irina nirgends mehr aufgetaucht, und sie wurden in „Press-Brothers“ umgetauft von skeptischen Zungen, die rätselten: Warum sprechen diese strammen Weiber tiefen Bariton, reisen mit Rasierapparat und duschen nie mit den anderen?

Was einen nicht umbringt, macht einen härter

Letzteres ist später auch über Jarmila Kratochvilova gemunkelt worden, die kantige Tschechin über 800 Meter. Sie erlief sich den Kampfnamen „Kratochvilov“, und ihr Weltrekord von 1983 – 1:53,28 Minuten – ist bis heute in den Stein gemeißelt. Nicht einmal Maria Mutola hat ihn gebrochen, obwohl die dreifache Weltmeisterin und Olympiasiegerin aus Mosambik auf dem Höhepunkt ihres kraftvollen Aussehens und Laufstils ein großes Blatt zu der Überschrift zwang: „Mann-o-Mann, was für eine Frau!“

Am Ende, mit 39, gab Mutola ihr Debüt als Fußball-Nationalspielerin, und jetzt ist sie in London: nein, nicht als Torjägerin Mosambiks – sondern als Trainerin von Caster Semenya. Zwei starke Frauen haben sich da zusammengetan, und die alte sagt über die junge, dass sie diesen unzerbrechlichen Rekord brechen könne. Wenn das wirklich so kommen sollte, werden wieder ein paar Augenbrauen nach oben zucken, aber diesmal, hört man, ist sie besser vorbereitet. Würde sie sonst bei der Eröffnungsfeier die Fahne tragen, als Blickfang, unter den Brenngläsern aller Welt?

Was einen nicht umbringt, macht einen härter. Mit der Hölle macht Caster Semenya keiner mehr Angst. Ach ja: sie ist immer noch erst 21.