Götterdämmerung legt sich über das Wunder von Bern: Ottmar Walter ist tot, der kleine Bruder des großen Fritz. Am Samstag ist einer der Helden von Bern im Alter von 89 Jahren gestorben.

Stuttgart - Man kann über die Jungs von „Bild“ sagen, was man will, aber wo andere ein dickes Buch schreiben müssen, um einem großen Leben gerecht zu werden, genügt ihnen ein knapper Satz. Als die Fußball-Weltmeister von 1954 (also auf gut Deutsch gesagt: unsere Helden von Bern) einmal eines ihrer Jubiläen feierten (es war, wenn wir uns nicht völlig vertun, das Vierzigjährige), hat die „Bild“-Zeitung jeden Einzelnen samt seinem aktuellen Befinden zündend beschrieben. Und bei Mittelstürmer Ottmar Walter wusste der rasche Leser nach vier Sekunden alles – hören wir nochmals kurz rein: „Nach Selbstmordversuch 1969 heute gefestigt, lebt als Pensionär in Kaiserslautern, öfter Betzenberg-Gast.“

 

Das war ein Satz wie eine Frikadelle, alles war drin – nur wusste man nicht, ob man lachen oder heulen sollte. Heute wissen wir es. Ottmar Walter ist tot. In einem Pflegeheim in Kaiserslautern hat er die letzten Jahre verbracht, erkrankt an Alzheimer. Gestern ist er gestorben, mit 89 Jahren, und die Pfalz und der FCK flaggen halbmast: Er war ihr „Roter Teufel“, aber vor allem ein Fußballgott – das Eingangstor zur Nordtribüne des nach seinem großen Bruder benannten Fritz-Walter-Stadions wurde deshalb längst in „Ottmar-Walter-Tor“ umgetauft, anlässlich seines 80. Geburtstags.

Das ist ein rundes Alter, in dem selbst die Helden sich rarer machen, und der „Ottes“, wie die Pfälzer sagen, hat sich damals zurückgezogen vom Rummel. Nur einmal hat es ihn auf seine späten Tage noch mal an den Tatort seines Lebens getrieben – in das Stadion Wankdorf in Bern, kurz bevor die Schweizer es mit ein paar Stangen Dynamit in die Luft gesprengt haben. Die letzte Ehre wollte er diesem Ort erweisen, in dem das wichtigste Spiel des deutschen Fußballs stattfand – viele behaupten sogar, dass es die wahre Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland war.

Wir sind wieder wer!

Jedenfalls war es 18.55 Uhr am 4. Juli 1954, als sich die Stimme des Radioreporters Herbert Zimmermann beim Blick auf die Stadionuhr überschlug: „Der Sekundenzeiger, er wandert so langsam. Wie gebannt starre ich hinüber. Geh doch schneller! Geh doch schneller! Aus! Aus! Aus! Aus, das Spiel ist aus!!!“ Die unschlagbaren Ungarn des Weltstars Puskas lagen fassungslos am Boden, und die wunden Nachkriegsdeutschen daheim rannten von ihren Radios auf die Straße und fielen sich mit dem Jubelschrei in die Arme: Wir sind wieder wer!

Ottmar Walter hat kein Tor geschossen an jenem Tag, dafür hat der „Kicker“ seine sonstigen Qualitäten gelobt: „Mühelos sein direktes Abspiel, riesengroß sein Laufpensum. Einige Male bereinigte er im eigenen Strafraum gefährliche Sachen.“ Auf dem Spielfeld und in den Schlagzeilen ist er immer der kleine Bruder vom großen Fritz geblieben. Der war der Künstler – und der Ottes der Handwerker, der da vorne den Kopf hinhielt. Alles in allem hat er es nur auf 21 Länderspiele und zehn Tore gebracht, doch vier davon hatte er sich für die WM 1954 aufgehoben – und sie haben gereicht für sein Denkmal. Er selbst sagte nur ganz bescheiden: „Es scheint doch so, dass wir damals etwas Besonderes geschafft haben.“

Die Probleme danach? Ja, es ist ihm eine Zeit lang eher dürftig ergangen. Ein Weltmeister ist damals mit 2000 Mark, einem Fernseher, einem Kühlschrank, einem Staubsauger und einem salamibestückten Geschenkkorb belohnt worden, also noch nicht automatisch im ewigen Reichtum gelandet, und als dem gelernten Automechaniker die Pacht einer Tankstelle über den Kopf wuchs, sah es vorübergehend so aus, als habe F. Scott Fitzgerald („Der letzte Tycoon“) wieder einmal recht mit seinem großen Dichterwort: Wer mir einen Helden zeigt, dem zeige ich eine Tragödie. Die Stadt Kaiserslautern hat ihren großen Sohn aber nicht vergessen, ihn in der Verwaltung beschäftigt, und er hat nicht nur die Kurve im Leben wieder gekriegt, sondern auch noch das große Bundesverdienstkreuz, und zwei Regionalzüge der Deutschen Bahn heißen heute „Ottmar Walter“ und „Horst Eckel“.

Horst Eckel ist nun der letzte FCK-Überlebende des Berner Wunders. Ansonsten ist jetzt nur noch der Kölner Hans Schäfer unter uns. Götterdämmerung.

Die Helden sterben aus.