Der VfB Stuttgart ist in der Fußball-Bundesliga immer noch Tabellenletzter. Viele Fans zittern deshalb vor Angst. Es ist höchste Zeit, ihnen die Angst vor dem Abstieg zu nehmen, meint der StZ-Kolumnist Oskar Beck.

Stuttgart - Wir Schwaben sind gefürchtet, weil wir keine Angst haben. Stramm schauen wir jeder Gefahr ins Auge wie der tapfere Bauer von der Alb, der mitten in der Nacht einen Einbrecher hörte, unter der Bettdecke seine Frau stupfte und sagte: „Gang du, i vergess mi in solcha Fäll’ immer so schnell.“

 

Doch plötzlich haben wir die Hose voll.

Wir haben Angst um den VfB, wir schlottern vor Abstiegsangst. Das ist eine dieser teuflischen Ängste, die Bill Shankly als Trainerlegende des FC Liverpool gemeint hat, als er sagte: „Es gibt Leute, die halten den Fußball für eine Sache auf Leben und Tod – dabei ist es weit schlimmer.“

Jeder anständige VfB-Fan spürt zurzeit diese Angst, und für die Veteranen hat das Abstiegsgespenst sogar ein Gesicht: Fred Hoffmann. Der war Trainer des SSV Reutlingen, gegen den der VfB in den Abgründen der Zweiten Liga und auf dem Tiefpunkt seiner Vereinsgeschichte am 21. Mai 1976 vor 2500 fassungslosen Augenzeugen im Neckarstadion 2:3 verlor – und wir würden uns nicht wundern, wenn es sogar das Spiel war, bei dem sich Hoffmann mit dem Satz berühmt redete: „Ab Montag wird das Rasieren teurer, weil die Gesichter länger geworden sind.“

„Fehler, jede Woche Fehler“

An dem Punkt sind wir jetzt wieder – für eine Rasur zahlt man in Stuttgart spätestens seit vergangenem Samstag Apothekenpreise, und Huub Stevens lässt sich aus Sparsamkeit lieber einen Sechstagebart stehen und stammelt: „Fehler, jede Woche Fehler.“ Einfach über den Ball hat sein Abwehrchef Niedermeier in Schalke gesäbelt und sich als Prophet erwiesen, denn in einem Interview drohte der Pechvogel schon Tage vorher: „Ein verunsicherter Spieler traut sich weniger zu und produziert Fehler.“ Er wollte damit sagen: Ich kremple die Ärmel hoch, aber wenn der Kopf nicht mehr mitmacht, verwechsle ich die Beine.

Das ist Abstiegsangst vom Besten.

„Da unten möchte ich nicht dabei sein“, stöhnt der Wolfsburger Trainer Dieter Hecking, und auch Augsburgs Manager Stefan Reuter spendet jeden Sonntag bündelweise Scheine dafür in den Opferstock, „dass wir damit nichts zu tun haben.“ Die Paderborner sind die einzigen, die zum Lachen in den Tabellenkeller gehen. Sie haben nichts zu verlieren, „alle haben uns abgeschrieben“, spürt der Trainer Andre Breitenreiter – also geben sie feixend bekannt, dass sie sich im Fall des Nichtabstiegs mit einem Konzert mit Helene Fischer („Atemlos“) belohnen. „Helene kann kommen“, grinst der Torwart Lukas Kruse, während uns atemlosen Schwaben schon die Luft wegbleibt, wenn sich Daniel Ginczek nur mal kurz an sein lange verletztes Knie greift. Gleich hängen wir uns in Gedanken an der Torlatte auf und quälen uns anschließend eine Woche lang mit der Schicksalsfrage: spielt Ginczek?

Der Witz mit Brunnenmeier

Diese Hysterie erinnert an kurz nach dem Krieg, als 1860 München dank des Torjägers Rudi Brunnenmeier noch Deutscher Meister war. In alten Schriften ist folgende Anekdote vermerkt. Vater und Sohn merken im Stadion, dass sie die Eintrittskarten vergessen haben. Der Bub rennt schnell noch mal heim und kommt völlig verstört zurück. „Babba, der Br...“, stottert er, „Babba, der Br...“ – bis er es endlich rausbringt: „Babba, der Briefträger liegt mit der Mama im Bett!“ Worauf der Papa sagt: „Und i hab scho g’fürcht, der Brunnenmeier spielt net.“

Der Ginczek spielt, und er spielt gut, aber andere lähmt die Angst. Gegen Bremen und Freiburg sprang Martin Harnik neulich dreimal der Ball vom Fuß. Frei vor dem Tor sieht da einer plötzlich Gespenster, die mit steifem Mittelfinger brüllen: „Wenn ihr absteigt, schlagen wir euch tot!“ Diese zwei Alternativen haben die Profis inzwischen so verinnerlicht, dass der Düsseldorfer Oliver Fink einmal einen sogenannten Schicksalskick auf die kurze Formel reduzierte: „Sieg oder Sarg.“

Und die Spieler sind die Sargnägel, von hier bis Amerika. Im „Kansas City Star“ erschien folgende Traueranzeige: „Loren G. („Sam“) Lickteig verstarb am 14. November 2012 aufgrund von Komplikationen durch MS und verursacht von den herzbrecherischen Enttäuschungen, die ihm das Footballteam der Kansas City Chiefs bereitet hat.“ Für die Hinterbliebenen lag da ein eindeutiger Fall von Fremdverschulden vor, auf dem schmalen Grat zum kaltblütigen Mord – oder hatte der alte Sam einfach einen schwarzen Galgenhumor, wie man ihn unter Fans nur noch selten findet?

So oder so: Es ist höchste Zeit, den VfB-Anhängern die panische Angst zu nehmen vor dem, was sie für das Schlimmste halten – dem Abstieg.

Wie Phönix aus der Asche

In Wahrheit hat der VfB die besten Erfahrungen damit gemacht, damals, im Sommer 75. Acht von zehn Überlebenden schwärmen noch heute davon, und die übrigen zwei schnalzen sogar mit der Zunge. „Clubräume ausschwefeln, Eiterbeulen ausdrücken!“, empfahl der Trainer Albert Sing seinem Präsidenten Mayer-Vorfelder nach dem Absturz als Sofortmaßnahme, und für die Umsetzung dieses anspruchsvollen Konzepts war die Stunde Null ideal. Zugegeben, es wurde dann eine schwere Wiedergeburt mittels Kaiserschnitt, denn Komplikationen kamen dazwischen wie die Blamage gegen Reutlingen, als der VfB das von Ottmar Hitzfeld bravourös herausgeschossene 2:1 nicht halten konnte – aber am Ende stieg der runderneuerte VfB wie Phönix aus der Asche, mit Wundermann Sundermann, seinen jungen Wilden und 55 000 Zuschauern im Durchschnitt, die Wunderkerzen anzündeten, für Freudenfeste sorgten und Ottmar Hitzfeld später sagen ließen: „Am Samstagnachmittag vergessen Millionen Menschen ihre Alltagssorgen.“

Soviel zur Schokoladenseite des Abstiegs. Vor lauter Angst wird sie häufig gar nicht erkannt – und um die vielen unnötig Besorgten zu beruhigen, erinnern wir auch noch schnell an einen der mitreißendsten Auftritte von Karl Valentin. Der Münchner Komiker und Kabarettist lag blass im Bett, in den letzten Zügen, doch als er sanft durch die Himmelspforte schwebte, eskortiert von singenden Engeln mit Harfen, bäumte er sich freudig erregt noch einmal auf und juchzte mit glühenden Backen: „Da hab ich ein Leben lang Angst vor dem Sterben gehabt – und jetzt das.“ Das Paradies!

Das Leben nach dem Abstieg kann traumhaft sein.