Lukas Podolski hat für 121 Länderspiele zehn Jahre gebraucht, für seine letzten 121 Tweets aber nur zehn Tage. Lothar Matthäus sagt dazu: „Twitter ist sexy, aber er sollte sich mehr auf Fußball konzentrieren.“

Stuttgart - Eine der radikalsten Erfindungen der Menschheit ist das Twittern. Wo man früher in der Silvesternacht um Zwölf für den Austausch der Glückwünsche noch den Hintern hat heben und den Mund hat aufmachen müssen, twittert man heute geschwind sein „Guten Rutsch, Schatz“ ans andere Ende des Sofas, bekommt ein „Dir auch, Teufelskerl“ zurückgetwittert – und das neue Jahr kann beginnen.

 

Doch dieser Tage muss das Twittern einen Tiefschlag verdauen, denn Lothar Matthäus meckert über Lukas Podolski: „Er twittert mehr, als er Fußball spielt.“

Grässlicher kann ein Vorwurf nicht sein. Für viele Deutsche ist das Twittern nämlich der Wahnsinn in Reinkultur, seit einmal Johannes Ponader als Chef der Piratenpartei in der Talkshow bei Günther Jauch war. Er kam als Einserabiturient, Philosophiestudent und Hartz-IV-Empfänger, und in Jesuslatschen und mit einem Schal um den Hals ist er dagehockt und hat auf seinem Smart- oder i-Phone mit flinken Fingern pausenlos Kurznachrichten getwittert. Millionen schauten kopfschüttelnd zu, und böse Zungen meinten nach der Sendung: Twittern heißt Zwitschern – warum soll also nicht gelegentlich einer einen Vogel haben.

113 Kilo Beifall und 9 Kisten Kommentare

Twittert auch Podolski zu viel? Mit Orkanstärke fegte im Internet der „Shitstorm“ der Poldi-Fans über Matthäus hinweg, und die Kommentare näherten sich der unvergessenen Einschätzung des Komikers und Baumarktexperten Mike Krüger: „Lothar war ja ursprünglich Raumausstatter – bis verlangt wurde, dass der IQ des Raumausstatters höher sein muss als die Raumtemperatur.“

Matthäus würde sich via Twitter dagegen jetzt zweifellos wehren, aber er kann oder will nicht twittern. Früher war er berühmt für seinen schnellen Antritt auf den ersten fünf Metern, aber er ist zu langsam für das rasante Tempo auf der modernen Plattform der sozialen Medien, oder sagen wir es so: Lukas Podolski hat für 121 Länderspiele zehn Jahre gebraucht, für seine letzten 121 Tweets aber nur zehn Tage. Ob er letzten Samstag während des Medizinchecks bei seinem neuen Club in Mailand den Inter-Fans brühwarm getwittert hat, wie der Dottore mit dem Hämmerchen seinen Kniereflex testet, wissen wir nicht, aber auf jeden Fall hat er gleich danach an seine alten Fans in London getextet: „In meinem Herzen wird immer ein Platz für Euch sein. Ich habe jede Minute im Arsenaltrikot geliebt.“ Die öffentliche Anteilnahme beim Twittern ist messbar, und die überwältigenden Zahlen lasen sich so: 113k likes und 9k comments. Was übersetzt ins Goethesche Altdeutsch vermutlich heißt: 113 Kilo Beifall und dazu 9 Kisten Kommentare.

Kein Wunder, dass fast jeder twittert, egal wie und was. Der frühere Hoffenheimer Stürmer Ryan Babel gab über den Schiedsrichter Kinhöfer einmal bekannt: „Der war auf Drogen.“ War eher Babel auf Drogen? Auf jeden Fall war der Holländer auf Twitter – was ungefähr dasselbe ist.

Extrawurst für den Würstchenfabrikanten?

Die Suchtgefahr ist hoch. Allein bei Facebook sind mehr als 900 Millionen Mitteilungsbedürftige emsig aktiv, darunter Didi Hallervorden. Noch 79-jährig twittert der Altkomiker sich seinen dicken Hals lieber leer, bevor er ihm platzt, zum Beispiel hat er dieser Tage das frühe Freigängerdasein von Uli Hoeneß mit dem Beitrag beschimpft: „Bekommt da ein prominenter Würstchenfabrikant von der Justiz die sprichwörtliche Extrawurst?“ Auch Didi erntete Doppelzentner von „Likes“.

Auf Facebook und Twitter ist fast jeder mit jedem befreundet und kann alles loswerden, darunter sogar Dinge, von denen man meinen könnte, dass sie keinen gut durchbluteten Menschen übermäßig interessieren. In puncto Niveau gibt es keine Mindestanforderungen, pingelige Kritiker bemühen sogar den Vergleich mit dem Unterschichtenfernsehen, und die von einem erstaunlichen Geltungsdrang getriebenen Wortmeldungen schwanken in der Regel zwischen inhaltsarm und banal. „Was tust du gerade?“ ist inzwischen die meistgestellte Frage der Gesellschaft, und die meistgetwitterte Antwort heißt: „Ich sitze an der Haltestelle, warte auf den Bus und lasse einen.“ Schon zehn Sekunden später kann sich der andere das Foto des Furzes hochladen und sehen, wie die Wolke steigt. Der anspruchsvolle Twitterer ist stets sendebereit.

Gerne grüßt beispielsweise der eine Fußball-Boateng den anderen („Congrats brother...u are world champion ;-) @JB17Official), und Mario Götze hat „Likes“ im fünfstelligen Bereich gesammelt, als er auf Facebook Kontakt mit dem Himmel aufnahm („Lieber Gott, ich möchte mir eine Minute Zeit nehmen. Nicht, um Dich um etwas zu bitten. Sondern einfach, um Dir zu danken für alles, was ich habe“). Auf Englisch übermittelte der Bayernstürmer seinen Gruß, und falls der Allmächtige tatsächlich Engländer ist, hat er auch Jermaine Jones gut verstanden, der in dieser Sprache neulich beim 0:5 seiner früheren Schalker gegen Chelsea den Zwischenstand von 0:3 nutzte, um mit Manager Horst Heldt fingerfertig eine alte Rechnung zu begleichen („Schlimm, dass einer einen Club so ruinieren kann“). Heldt hätte antworten können, dass Jones der erste Sargnagel war, hat es aber gelassen.

Twittern verboten auf der Schalker Ersatzbank

Bei Schalke sagte neulich Trainer Roberto Di Matteo: „Wir führen Verhaltensregeln ein.“ Während des 1:4 gegen Gladbach hatte sich vom Twitterkonto des auf der Auswechselbank schmorenden Mittelfeldspielers Tranquillo Barnetta nämlich der verwegene Satz in die Welt verirrt: „Drei Wechsel, kein Quillo! Na dann: hopp Gladbach.“

Solche Anfechtungen kannte Lothar Matthäus früher nicht. Als er der Star bei Inter Mailand war, von 1988 bis 1992, gab es noch keine Handys. Heute ist alles leichter und kleiner. Ein Torjäger wie Podolski kann das i-Phone bequem mitnehmen in den Strafraum, sich den Ball in Ruhe vors linke Bein legen und beim Ausholen noch blitzschnell eine Botschaft twittern. Die letzte ging so:

Aber Matthäus ist von gestern, er will nicht twittern und muss deshalb oft tagelang warten, bis ihn ein Reporter vom Boulevard anruft und fragt, ob er auf die letzten fünf bis sechs Tweets von Poldi nicht antworten will. Im Kölner „Express“ hat er es jetzt getan und erklärt: „Twitter ist sexy, aber er sollte sich mehr auf Fußball konzentrieren.“

Das ist es, was wir die ganze Zeit sagen wollten: Twittern ist sexy – aber.