Seine Fallrückzieher und Kopfballtorpedos sind unvergessen. Einer der gröten Fußballer, Uwe Seeler, wird am Samstag 75.

Stuttgart - Samstag ist kein Tag wie jeder andere: "Der Dicke", als den ihn jeder aufrechte Deutsche kennt, feiert Geburtstag. Uns Uwe wird 75.

 

Uns Uwe?

Fallrückzieher im Sitzen

"Euch Uwe" sagen sie in St. Pauli, bei der anderen Hamburger Feldpostnummer, aber auf jeden Fall ist er mein Uwe - und zwar seit jenem unfassbaren Vorfall gegen Westfalia Herne anno 60, als dieser HSV-Mittelstürmer Seeler in einem Endrundenspiel um die Deutsche Meisterschaft beim Luftkampf mit Nationaltorwart Hennes Tilkowski auf den Hintern fiel und sich mit einem derartig rätselhaften Fallrückzieher aus der aussichtslosen Lage befreite, dass anderntags in der Zeitung stand: "Das Tor des Jahrhunderts."

Einen Fallrückzieher in der Luft kann ja jeder - aber im Sitzen, auf zwei Backen, auf Höhe der Grasnarbe? Der Fußballbub B., zehnjährig, hat sich das Foto ausgeschnitten und in sein Erdkundebuch geklebt, aber bald ist es darin eng geworden, denn andere Tore als solche, die man ausschneiden musste, hat mein Uwe gar nicht geschossen - sobald der Dicke auf der vollen Breite und Höhe des Strafraums explodierte, drohte ein Kracher unter die Latte, mindestens aber ein Kopfballtorpedo.

Der Verkalkte nickte dem Blinden zu

"Lieber Uwe", hat ihm dieser Tage Sir Bobby Charlton gratuliert, "es war immer ein Vergnügen gegen dich, wenn du nur nicht diese berühmten Tore geköpft hättest."

Er meint Leon 70. Da katapultierte Uwe seine 168 Zentimeter in die Luft, nahm den verlängerten Hinterkopf, und Sir Bobby und die Engländer packten ihre WM-Koffer und bereuten, was sie dem deutschen Käptn vier Jahre zuvor angetan hatten: Im Endspiel in Wembley standen sie Schmiere, als Schiedsrichter Gottfried Dienst, diese gottlose Pfeife, draußen an der Kalklinie den Fahnen schwenkenden Schnauzbart Bakhramow fragte, ob der Ball drin war. Der Verkalkte nickte dem Blinden zu, und Uwe wurde nie Weltmeister.

Ehrenbürger von Hamburg

"Lieber ein guter Verlierer als ein schlechter Sieger", hat er seinerzeit gesagt - und den Engländern dann die Kopfnuss in Leon verpasst. Es war das letzte seiner 43 Tore in 72 Länderspielen, die sich von seinem Debüt mit 17 Jahren über vier WM-Turniere bis zur Ernennung zum Ehrenspielführer erstreckten. Außerdem ist er auch noch Ehrenbürger von Hamburg, Ehrenkommissar der Polizei, Ehrenkapitän der Schifffahrt und Ehrenschleusenwärter, und alles nur wegen seines ehrbaren Mottos: "Das Schönste auf der Welt ist es, normal zu bleiben."

Uwe hat diese Tugend so übertrieben, dass er zur Strafe auch noch dreimal Fußballer des Jahres wurde, und beim Würdigen dieses Lebens erwischt man sich dabei, dass man den Griffel weglegt, sich vom Schreibtisch erhebt und kurz und ergriffen innehält - oder wissen Sie noch einen, der fünfundsiebzig Jahre lang a) klaren Kopf bewahrt, b) den Kopf hinhält und c) diesen Kopf nie hängen lässt? Das Foto mit dem geknickten Seeler, den ein Londoner Bobby anno 66 vom Rasen in Wembley abführt, ist entweder schon bei Halbzeit geschossen worden - oder eine dreiste Fälschung.

Wir knieten nieder zum inneren Volkstrauertag

Denn Uwe trug den Kopf immer oben. Sogar als ihm unten die Achillessehne riss. Wir knieten nieder zum inneren Volkstrauertag, denn ein WM-Qualifikationsspiel in Stockholm stand damals bevor, bei dem auf Teufel komm raus ein Sieg her musste. Der Versehrte, gestählt vom hanseatischen Küstenwind, packte kurzerhand seine frisch reparierte Sehne in einen gepolsterten Spezialschuh, und als die Schweden 1:0 führten, hat er die Ärmel hochgekrempelt, auf die Zähne gebissen, in die Hände gespuckt, die Fäuste geballt und über den Platz gebrüllt: "Keiner lässt die Schlappohren hängen!" Sofort fiel der Ausgleich, und am Ende machte Uwe das 2:1. Spätestens da war ihm auch vollends das Bundesverdienstkreuz sicher, und er hat sich nicht dafür schämen müssen, obwohl Günter Pfitzmann, die kabarettistische Kratzbürste, zu der Zeit gerne lästerte: "Wussten Sie, dass jeder Fünfte von denen, die es gekriegt haben, im Gefängnis sitzt oder schon mal dort saß?"

Aber nicht uns Uwe. Bei dem war immer zu spüren, dass er nicht nur für sich, sondern auch für mich spielte. Selbst als Inter Mailand mit einem so fetten Scheck wedelte, dass ein Hamburger Pastor einen offenen Brief an ihn schrieb ("Geben Sie der Jugend ein Beispiel, bleiben Sie!"), ist Uwe sich und mir treu geblieben, für 460 Mark im Monat in der Oberliga Nord.


Ein Rührstück aus der Steinzeit?

Nein, ein Stück Seeler. Er fängt nichts an mit Spielern, "die die HSV-Raute küssen, auf Höhe des Herzens, und kurz danach abhauen." Sogar mit der ersten Frau ist er noch verheiratet. Kein Skandal, nichts, Õ la Schmeling, Õ la Walter. Zugegeben, der stramme Max, der alte Fritz und uns Uwe waren als Idole noch nicht so umzingelt von Paparazzi und Handyreportern, aber auch in der Nachkriegs- und Nierentischphase musste das Leben bewältigt werden.

Das Leben im Strafraum ist kein Wattepusten

Und auch das Toreschießen war damals nicht leichter, im Gegenteil, gleiche Höhe war noch abseits. Wer es nicht glaubt, muss nur Olli ("Dittsche") Dittrich mal sehen, wenn er mit seinem Uwe-Gedächtnishaarschnitt in die Bütt steigt und an jene Hungerlohnzeiten erinnert, als noch "18 Mark 60 München gegen Eintritt Frankfurt" spielte - damit jedem klar wird, dass das Leben im Strafraum auch damals kein Wattepusten war, kommt Dittsche in dicken, gestrickten HSV-Stützstrümpfen und Uwes altem Baumwolltrikot, das bei Regen wie ein nasser Sack an ihm hing.

Dankbar hat sich Uwe bei Dittsche dafür revanchiert mit einem Gastauftritt als "Schildkröte", der fast so umwerfend war wie sein TV-Werbespot in den 70ern, als er sich mit dem Rasierwasser von Pitralon einrieb und dazu die Melodie pfiff aus "Im Frühtau zu Berge wir zieh'n".

Das Konzept ist immer aufgegangen

So hat Uwe sich und die Gegner rasiert, und als Zuspätgeborener kann man alle seine Sitzfallrückzieher und Hinterkopftorpedos auf Youtube abrufen. Womöglich findet sich sogar noch irgendwo der kurze Dialog, mit dem er sich einst als HSV-Präsident empfahl. Einer fragte skeptisch: "Was ist dein Konzept, Uwe?" Worauf Uwe sagte: "Das Konzept bin ich." Basta. Schlielich war dieses Konzept immer aufgegangen: Flanke von Charly Dörfel, Kopfball von Uwe - Tor.

Der Dank steht in Bronze vor dem Hamburger Stadion: Der rechte Fuß vom Meisterkäptn als Skulptur, vier Tonnen schwer, fünf Meter breit, drei Meter hoch.

Sein Außenrist war der hohe Scheitel

Aber wo ist der Kopf?

Uwe ohne Kopf, das passt nicht. Denn wo Pelé und Beckenbauer für ihren Ballzauber zusammen vier Füße benötigten, genügte bei Uwe dieser eine, unvergleichliche Kopf - sein Außenrist war der hohe Scheitel, mit dem hat er die Dinger unter die Latte geschnibbelt, und Schulbub B. hat die Fotos dann ausgeschnibbelt und eingeklebt.

Vergelt's Gott, mein Held - und weiter alles Gute.

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