Papst Benedikt XVI. hat eine Rücktrittswelle ausgelöst. Nur am Heiligen Vater des Fußballs könnte sie abprallen.

Stuttgart - Kein Mensch, der alle Tassen im Schrank hat, würde mit Sepp Blatter freiwillig tauschen. Ständig fliegen dem Boss des Weltfußballs böse Wortfetzen um die Ohren, viele fordern sogar alle paar Tage seinen Kopf. Als der Schweizer neulich den Wettskandal zur Bagatelle relativierte und darauf hinwies, dass 700 verscherbelte Kicks bei insgesamt einer Million Spiele gerade mal lumpige 0,04 Prozent ausmachen, war der Aufschrei gellend. Die „Welt“ beispielsweise sprang dem kleinen Napoleon des Fußballs mit der Forderung an die Gurgel: „Blatter ins Exil nach Elba, sofort!“

 

Immer wieder kursiert dieser fromme Wunsch, mal träumt Uli Hoeneß davon, mal Karl-Heinz Rummenigge, oder Reinhard Rauball. Der Chef der Bundesliga will den König der Fifa wegen der dortigen Korruptionsaffären vom Hof jagen – aber nie hat Blatter ein Knie gebeugt.

Gibt es ein Leben nach dem Rücktritt?

Warum auch? Jeder Rücktritt galt bis vor kurzem als abwegig. Jahrzehntelang war es guter Brauch, dass kein Mensch freiwillig zurücktritt. Auch Muhammad Ali und Joe Frazier sind nie zurückgetreten. Drei der grausamsten Schlachten der Boxgeschichte haben die beiden sich in den 70er Jahren geliefert, gewürzt mit Beleidigungen wie „Großmaul“ und „Onkel Tom’s Nigger“, und als sie sich dann vor ein paar Jahren als Rentner beim Basketball trafen, kam es zu folgendem Dialog.

„Joe“, sagte Ali, „wir sind immer noch aufeinander böse, stimmt’s?“

„Ja“, nickte Frazier, „wie wär’s mit ein paar Runden? Ich weiß, Du bewegst Dich nicht mehr gut, aber ich kann Dir ja sagen, wann Du Dich ducken musst.“ Mindestens 600 Millionen Menschen auf der Welt hätten elektrisiert nochmals zugeschaut, der Größte und Smoking Joe hätten gefühlte zehn Millionen kassiert, jedenfalls ist die Sache nicht am Geld gescheitert – sondern an Fraziers Tod.

Rücktritte waren also verpönt. Kein Sportsmann wäre auf die Idee gekommen, die Boxhandschuhe, die Kickstiefel oder die Radkappen zu früh an den Nagel zu hängen, und noch neulich hat sich auch der VfB-Präsident Gerd Mäuser allenfalls kurz geschüttelt, als die Fans im Stuttgarter Stadion im Kanon sangen: „Vorstand raus!“

Raus? Wohin? Was wartet da draußen? Gibt es ein Leben nach dem Rücktritt – oder hat man als Abgedankter womöglich nur noch die Qual der Wahl, ob man die Zeit totschlägt mit Kreuzfahrten nach Honolulu, dem Gassiführen seines Waldis oder einem Auftritt im TV-„Dschungelcamp“, neben Visconti-Star Helmut Berger („Ludwig II“)?

Warum soll ich zurücktreten?

Das sind die Ängste, die in Sport, Show und Politik in der Vergangenheit massenhaft Rücktritte verhindert haben, sogar der Regierende Bürgermeister von Berlin will jetzt noch eisern im Amt ausharren, um in ferneren Zeiten seinen Flugplatz eröffnen zu können, egal wann – notfalls verweist Wowi auf Jopi, also Heesters, der noch mit 108, gestützt von kräftigen Helfern, auf der Bühne stand.

So hat sich früher jede Woche, jeden Tag, jede Minute irgendein berühmter Mensch gegen das Aufhören aufgebäumt, getrieben vom ewigen Leistungswillen, der Angst vor der Leere oder der ungebrochenen Wettkampflust. Phil Taylor ist über 50 und stöhnt: „Meine Groupies werden alt, haben keine Zähne mehr und gehen am Stock“ – trotzdem wirft er weiter seine Dartpfeile. Oder Giovanni Trapattoni. Der ewige Italiener weigert sich stur, sich die Beine aufsägen und die Jahresringe zählen zu lassen. Lieber sagt er: „Man wird mich einmal mit Fußtritten aus dem Fußball jagen müssen.“

Dieser Satz könnte genauso gut von Sepp Blatter sein. Warum, hat der sich Jahr für Jahr immer wieder kopfschüttelnd gefragt, soll ich zurücktreten, der Papst tritt ja auch nicht zurück. Und nun das: der Papst hat seinen Rücktritt angekündigt, freiwillig, als Erster, nach 700 Jahren. Und eine Lawine hat Benedikt XVI. damit losgetreten, wenn nicht gar eine La Ola, eine Rücktrittswelle der Begeisterung. Das Zurücktreten gilt plötzlich als der letzte Schrei, es gibt kein Halten mehr, alle finden einen Grund, neulich die deutsche Bildungsministerin, am Montag der bulgarische Finanzminister, am Dienstag der tunesische Ministerpräsident, und vor allem im Sport hat der Papst mit seinem Befreiungsschlag alle Dämme gebrochen. Hals über Kopf wird seit Tagen abgedankt, Sven Göran Eriksson ist als Trainer bei 1860 München sogar vorbeugend zurückgetreten, noch ehe er da war, der Trainer von Deportivo La Coruna hat den Bettel hingeschmissen, gefolgt vom tunesischen Nationaltrainer und vom nigerianischen – der ist sogar von seinem Rücktritt inzwischen zurückgetreten.

Ist Sepp Blatter ein guter Katholik?

Der Trend galoppiert, und zwar bis hinunter zum Manager des belgischen Radstalls Lotto Belisol oder zum Vorsitzenden des Oberligisten Bergedorf 85, und nachdem auch Raphael Martinetti, der Schweizer Präsident des Weltringerverbands, auf dem Absatz servus gesagt hat, stellte sich natürlich die Frage: Was macht jetzt der Schweizer Präsident des Weltfußballverbands? Ist Sepp Blatter ein guter Katholik, folgt er dem wegweisenden Schritt des Papsts, lässt er sich von der Rücktrittswelle ebenfalls aus dem Amt spülen – oder bleibt er bockig?

Die zündende Antwort darauf hat Blatter nun diese Woche ganz schnell gegeben, mit der Ankündigung der Torlinienkameras und des Chips im Ball, der sich künftig unmittelbar nach Überschreiten der Kalklinie mit dem Jubelschrei meldet: „Ich bin drin.“ Und Blatter soll raus?

Er denkt nicht dran. Er wird seinem Papst zeigen, wo der Barthel den Most holt – sogar an einer knackigen Osterbotschaft feilt der Heilige Vater des Fußballs angeblich schon, die im Versprechen gipfelt: „Nachdem ich wiederholt mein Gewissen vor Gott geprüft habe, bin ich zur Gewissheit gelangt, dass ich auch weiter geeignet bin, in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben.“