Der neue Hertha-Trainer Otto Rehhagel freut sich auf den Abstiegskampf wie ein 73-jähriges Kind. Gegen den FC Augsburg geht es jetzt los.  

Berlin - Bei seinem ersten Training wurde Otto Rehhagel dieser Tage begrüßt von 167 begeisterten Berlinern, die weitgehend seinem Jahrgang entsprachen und seine Robustheit schätzen. Man kennt sich von früher, in alten Hertha-Schriften aus dem Bundesliga-Gründerjahr 1963 sind die Fakten überliefert: Wegen des Verteidigers Rehhagel trugen die Zuschauer bis hinauf in die zehnte Reihe des Olympiastadions damals sicherheitshalber Schienbeinschützer. Jetzt trifft man sich wieder. Rentner unter sich.

 

Doch während die Rehhagel-Gläubigen aus dem Ruhestand Richtung Training pilgern, kommt der Umjubelte aus dem Unruhestand. Und das mit Tatütata, denn wenn es im Abstiegskampf brennt, darf ein Feuerwehrkommandant keine Zeit verlieren, sondern muss da sein, mit dem großen Spritzenwagen und dem dicken Schlauch. Laut war jedenfalls das Hurra der Berliner, es war fast wie anno 92 nach dem Europacupsieg von Werder Bremen, als sich der rasende ZDF-Reporter Rolf Töpperwien brandaktuell vom Flughafen meldete: "Jetzt! Jetzt betritt Otto Rehhagel deutschen Boden!"

"Otto Torhagel"

König Otto ist wieder da - aber mit ihm natürlich auch etliche Nörgler, die sich die Haare raufen und entgeistert fragen: Wie kann man mitten hinein in die neue Ära der Perspektivtrainer und modernen Taktikfüchse einen 73-Jährigen wiederbeleben, der aus einer Zeit stammt, als die Trainer noch die Torlatten auf den Platz trugen und vor dem Spiel die Strafraumlinien mit Sägemehl streuten?

Rehhagels Rückkehr ist für viele die größte Sensation, seit die polnische Großmutter Krystyna Zbyszynska mit 84 mit dem Fallschirm absprang. "Ich habe den Zweiten Weltkrieg überlebt", sagte die tapfere Oma nach der Landung, "wieso sollte ich mich jetzt fürchten?" So ist es auch mit Opa Otto. Den eisernen Rehhagel haut nichts mehr um, seit er als Jungtrainer anno 78/79 mit den Dortmundern gegen Gladbach spielte.

Beim Stand von 0:6 wollte er den noch nicht ganz 40-jährigen Sigi Held einwechseln, aber der hat ihn nur angeschaut und gesagt: "Soll ich dat jetzt noch rumreißen?" Rehhagel sah es ein, er ließ den Alten wieder hinsitzen, und das war sein größter Fehler. Denn ohne Routinier Sigi ging es 0:12 aus, und als "Otto Torhagel" wurde Rehhagel gefeuert. Seither setzt er auf die Kraft der Veteranen.

Einer wie er brennt nie aus

Wie die Berliner auf ihn. "Otto ist unser Retter", schwärmen die. Gefühlte neun von zehn Hertha-Fans sind überzeugt, dass Rehhagel eine harte Socke ist, wie gestrickt für den Abstiegskampf und immun gegen alles, was in diesen erschöpfungsanfälligen Zeiten auf Neudeutsch als Breakdown oder Burn-out kursiert. Für Otto Rehhagel ist das Chinesisch. Dieser unerschütterliche Frontkämpfer taugt eher zum handfesten Klartext, Devise: wer Visionen hat, muss zum Doktor.

Über den Dreiecksdruck zwischen Kopf, Körper und Seele ist ihm eigentlich nur einmal ein schwerwiegender Satz entfahren, im jugendlichen Leichtsinn, als er mit dem Lebensprinzip überraschte: "Du musst als Trainer genug verdienen, um mit 50 in der Klapsmühle erster Klasse liegen zu können." Es geht ihm auch heute noch erstklassig. Einer wie er brennt nie aus. Er brennt. Und brennt.

Was der lodernde Otto im Unruhestand getan hat? Vermutlich ist er mit dem ersten Hahnenschrei aufgestanden, danach dreißig einarmige Liegestütze, drei rohe Eier im Tomatensaft - und für den Rest des Tages wird er sich mit seiner Beate köstlich amüsiert haben über das theoretische Professoreneinmaleins der jungen Kollegen in puncto moderner Fußball, obwohl doch seit seinem Husarenstück als Rehakles mit den Griechen jeder weiß, dass man Europameister nur mit Ausputzer wird.

"Ich bin ein erfahrener Cowboy"

Rehhagels Regeln sind einfach, und seine Rechnungen verdammt oft aufgegangen. Von keinem Zipperlein wird er geplagt, aber noch weniger von Selbstzweifeln. Er muss weder den Arzt oder Apotheker fragen noch die Packungsbeilage, bei ihm hat der Trainerjob keine Nebenwirkungen. Und Ohrenweh holt er sich sowieso keins, denn er hört auf keinen Schlaumeier, sondern nur auf sich. O-Ton Otto: "Ich bin ein erfahrener Cowboy, mir pinkelt keiner in die Satteltasche."

Schon gar nicht darf ihm einer mit seinem Alter kommen. Dem erzählt Rehhagel zur Strafe sofort die Geschichte vom ehemaligen Kremlboss, und zwar so: "Als Jelzin am offenen Herzen operiert wurde, von wem ist er behandelt worden? Nicht von einem jungen Mann der Moskauer Uni, sondern von einem 75-jährigen Fachmann aus Amerika."

"Bei mir zählen als Verletzungen nur glatte Brüche"

So gesehen ist Rehhagel für die Hertha noch zwei Jahre zu jung, aber diesen Nachteil gleicht er aus, denn er weiß noch persönlich, was in der Stunde null zu tun ist - in Berlin war das im Mai 45 nicht die Stunde der Ladys mit den Lippenstiften und Stöckelschuhen, sondern die der Trümmerfrauen, die in den Ruinen die Backsteine abgeklopft und weggeschleppt haben. Rehhagel ist der Trümmerotto der Hertha.

In Augsburg geht es jetzt los. Dieser Kellerkick darf auf gar keinen Fall verloren werden, und wir sehen den furchtlosen Berliner Retter schon vor uns, wie er in die Hände spuckt, die Ärmel hochkrempelt, vor seiner Trainerbank auf und ab hüpft wie ein Gummiball und durch die Finger pfeift. Und wehe, seine Pflegefälle blasen Trübsal, klappern vor Angst oder jammern im Abstiegsstress über Migräne, dann gilt wieder Ottos altes, zündendes Wort: "Die sollen sich nicht so anstellen - bei mir zählen als Verletzungen nur glatte Brüche."

Abstiegskampf, das ist wie eine Operation am offenen Herzen, und Rehhagel hält sich für den kaltschnäuzigsten Chirurgen. Vor 30 Jahren hat er sich einmal mit einer kugelsicheren Weste auf die Trainerbank gesetzt, wegen einer Morddrohung. So einer empfindet das bisschen Abstiegsangst jetzt als vergnügungssteuerpflichtig und freut sich darauf wie ein 73-jähriges Kind.