Hier strenge Formen, da scheinbar ungezähmte Wildnis, dort monumentale Kuriositäten – und dann und wann ein still verträumter Winkel: ein Frühlingsspaziergang durch Pariser Parks und Gärten offenbart die zweite Natur der Stadt, wie der StZ-Autor Rainer Moritz entdeckt hat.

Paris - „Man gebe den Städten große Parkanlagen. Parks schaffen die Grundlage dafür, dass das Leben der jungen  Leute plötzlich umschlagen kann, dass es einen Seitenweg nimmt, einer unvorhergesehenen Gabelung folgt“ – so setzt Hervé Le Telliers Roman „Kein Wort mehr über Liebe“ ein. Eine seiner Figuren, der Schüler Thomas, schlägt alsbald im Jardin du Luxembourg sein „Hauptquartier“ auf. Er sucht die Nähe sommersprossiger Mädchen, deren Patschuliduft er nie mehr vergessen wird, stellt sich bei Regen in einem der Musikpavillons unter, diskutiert, ohne sie gelesen zu haben, über Barthes und Althusser und fühlt sich als Bohemien unter Bohemiens.

 

Der Jardin du Luxembourg, den Le Tellier zum Ausgangspunkt seines vor wenigen Jahren erschienenen Romans macht, gehört zu den bekanntesten Pariser Parks. Kaum ein Tourist lässt es sich nehmen, durch seine weitläufige Anlage zu schlendern, an den Büsten Baudelaires oder Sainte-Beuves innezuhalten, eines der Segelschiffchen zu mieten, um es, das Entenhaus in der Mitte tunlichst umfahrend, auf dem Wasser des zentralen Bassins auszusetzen und vielleicht Verse von Rilke oder Erich Kästner zu zitieren: „Dieser Park liegt dicht beim Paradies. / Und die Blumen blühn, als wüssten sie’s.“

Suche nach Oasen der Stille

Über vierhundert Parks – je nach Größe „square“, „jardin“ oder „parc“ genannt – zählt Paris, und zu den besonders paradiesisch anmutenden gehören jene, deren verzweigte Wege, Schlösschen, Wasserspiele und Bäume weit in die französische Geschichte zurückreichen. Doch wer den Jardin du Luxembourg, den Jardin des Plantes mit Tierpark und Alpingarten, das Marsfeld mit dem Magneten Eiffelturm oder die Tuilerien an der Rue de Rivoli durchschritten hat, beginnt nach Oasen der Stille zu suchen, die nicht in jedem Reiseführer auftauchen – ein Verlangen, das viele Pariser teilen. Denn die Bewohner einer solchen Metropole mögen sich im Lauf der Jahre daran gewöhnt haben, das Gewimmel auf den großen Boulevards oder an den Touristenattraktionen zu ertragen, und dennoch sehnen sie sich hin und wieder nach Rückzugsorten, die einem das Gefühl geben, aus der Zeit zu fallen und den Anstrengungen einer Millionenstadt zumindest für ein paar Stunden zu entkommen.

Zu diesen „Geheimtipps“ gehört beispielsweise der rund 7000 Quadratmeter große Jardin Catherine-Labouré im 7. Arrondissement. Benannt nach einer Ordensschwester, verleugnet er seine Herkunft nicht und hat sich den Charme eines bäuerlichen Klostergartens bewahrt. Umschlossen von graubraunen Mauern, verfügt er über einen einzigen, schmalen Zugang in der Rue de Babylone, was ihn vor allem bei ängstlichen Müttern mit Kleinkindern sehr beliebt macht.

Die Kinderfrauen im Parc Monceau

Er lebt von seiner Übersichtlichkeit und der Vielzahl an Sträuchern und Bäumen, die nicht verleugnen, dass er vormals auch ein Nutzgarten war. Linden und Pappeln säumen die Rasenvierecke. Johannisbeer- und Haselnusshecken, Kirsch- und Apfelbäume, durch Kordonschnitt gezähmt, Ginsterbüsche und Weiden prägen das Bild, und das Angebot an Obst und Gemüse verführt den einen oder anderen hungrigen Besucher dazu, sich den Gang auf den Markt oder in den Supermarkt zu sparen und sich heimlich ein Körbchen zu füllen.

Blickfang des Gartens ist ein Tunnelgewölbe, das über und über mit Wein bepflanzt ist. Unter dieser prächtigen Rebenpergola, die je nach Jahreszeit ihre Farbe von sattem Grün hin zu kräftigem Rotbraun wechselt, lässt es sich auf einer der Bänke stundenlang aushalten – ein Refugium im Refugium. Leidvolle Erfahrungen haben zur Anbringung eines Schildes geführt, das darauf hinweist, dass die sich hochwindenden Weinstöcke nicht zum Klettergerüst taugen.

Verschmelzung von Mondänem und Naivem

Wem das zu abgeschieden und zu ländlich ist, der sollte das Arrondissement wechseln, hinüber ins noble achte etwa, wo der von Kurt Tucholsky bedichtete Parc Monceau lockt. Das ist ein wahrer Zaubergarten, dem der Chansonnier Yves Duteil eines seiner schönsten Lieder – „Au Parc Monceau“ – gewidmet hat, ein Stück voller Erinnerungen an schwarze Schwäne, Schaukeln und erste Küsse: „Un square bien à l’abri de ma mémoire quand j’y retourne par hasard.“ An Kuriositäten – darunter eine Gräberallee mit ägyptischer Pyramide und ein säulenumstandenes Wasserbecken, das hier, wie es sich für eine verspielt-aristokratische Anlage gehört, Naumachie heißt – mangelt es nicht. Der von einer mächtigen Trauerweide dominierte Teich erinnert an antike Anlagen, die dazu dienten, bedeutende Seeschlachten nachzuspielen. So sehr der gut acht Hektar große Park an sonnigen Tagen voll pulsierenden Lebens ist und so hart seine Bänke dann umkämpft sind, so unangestrengt lässt er Mondänes und Naives miteinander verschmelzen. An den Vormittagen ziehen Kinderfrauen, die man zumindest in diesem Arrondissement weiter Gouvernanten nennen möchte, ihre Kreise – bisweilen mit vornehm gelangweiltem Gesichtsausdruck und in der Hoffnung, dass die lieben Kleinen Ruhe geben mögen in ihren schicken Kinderwagen.

Auch hier griff Haussmann entscheidend ein

Gefahr droht den Kindern in diesem Park allenfalls von verschwitzten, orientierungslosen Joggern, steht er doch, laut „Nouvel Observateur“, auf den vorderen Plätzen der Pariser Läuferparadiese – ein Phänomen, unter dem der Schriftsteller Marcel Proust in seiner Jugend nicht zu leiden hatte. Jahrzehnte verbrachte er in der Gegend. Von der elterlichen Wohnung am Boulevard Malesherbes zog man nachmittags entweder auf die Champs-Élysées oder in den Parc Monceau. Als sich der Wohlstand der Familie mehrte, beschloss der Vater, ein angesehener Mediziner, im Jahr 1900 in die noblere Rue de Courcelles zu ziehen, ein paar Katzensprünge vom Park entfernt. Eine Fotografie zeigt ihn vor einem der prachtvollen, goldenen Eingangsgitter des Parc Monceau mit der von ihm umschwärmten Antoinette Faure, einer Tochter des späteren Staatspräsidenten Félix Faure.

Gepflanzt auf Steinbruch und Industriebrache

Ohne Schwierigkeiten würde Proust heute den Park seiner Kindheit und dessen elegante Eingangsportale wiedererkennen. Dessen prächtigstes befindet sich am Eingang zum Boulevard Malesherbes; es erstreckt sich über eine Breite von 36 Metern und ragt mehr als acht Meter in die Höhe. Die schwarz-goldenen Gitter sind längst ein Markenzeichen und gehen auf den Architekten Gabriel Davioud zurück. Sie wurden zum modischen Symbol einer neuen Ära, als der grundlegend veränderte Park im August 1861 von Napoléon III. wiedereröffnet wurde. Für die Umgestaltung trugen, wieder einmal, der Präfekt Georges-Eugène Haussmann und sein Mann für alle Fälle, der Ingenieur Jean-Charles Alphand, die Verantwortung. Radikal wandelten sie Paris in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um, und mancherorts, im 19. Arrondissement zum Beispiel, entstanden Anlagen aus dem Nichts – wie der Parc des Buttes-Chaumont. Wo man heute dessen einzigartige, ganz der Fantasie entsprungene Landschaft bestaunt, da diente dieser – so die am häufigsten genannte Etymologie –„kahle Hügel“ lange als Steinbruch, der vor allem Gips zu Tage förderte, Müllhalde und Abdeckerei.

Auch im zwanzigsten Jahrhundert ruhten die Pariser Stadtplaner nicht, ihren gestressten Zeitgenossen neue „grüne Lungen“ bereitzustellen. Neben dem Parc de la  Villette im Norden lieferte und liefert der Parc André-Citroën im 15. Arrondissement Diskussionsstoff. Er umfasst knapp 14 Hektar. Diese spektakulärste Neuerrichtung eines Parks in Paris seit dem Zweiten Kaiserreich befindet sich auf historisch bedeutsamem Gelände und demonstriert, wie radikal eine Industriebrache durch gestalterischen Willen ihr Gesicht verändern kann. Hier im Quartier de Javel wurde im 18. Jahrhundert das Javelwasser, ein auch zur Desinfektion verwendetes Bleichmittel, entwickelt und produziert, und hier errichtete der legendäre André Citroën im Ersten Weltkrieg eine Fabrik, die zuerst Munition und dann Automobile in Serie produzierte. Bis 1975 behielten die Citroën-Werke diesen Standort, doch mit dem Ende der von Autofahrern so geliebten „Göttin“, des Citroëns DS, schlossen die Werkstore. 1982 wurde die Fabrik stillgelegt, und Paris bot sich die verheißungsvolle Gelegenheit, die Tristesse für eine gestalterische Revolution zu nutzen.

Keine Liebe auf den ersten Blick

Man schrieb einen Wettbewerb aus, ohne sich am Ende für einen der Entwürfe zu entscheiden. So kam es zu einem Kompromiss, der traditionelle und (post-)moderne Ansätze miteinander vermittelt. Entstanden ist ein Areal, das nie unumstritten war: Von Architekturkritikern gefeiert und als „kunstvolle Mischung des traditionellen französischen Palastgartens mit zeitgenössischen Ideen“ (Michael Riha) beschrieben, ist der Park in den Augen anderer ein übles Machwerk. Auf der Website des Project for Public Spaces rangiert er unter den misslungensten Parks weltweit auf dem zweiten Platz. Liebe auf den ersten Blick ruft er wohl selten hervor, doch je häufiger man sich seinem Wechselspiel aus streng geometrischen (Beton-)Formen und wild wuchernden „Gärten in Bewegung“ aussetzt, desto faszinierender wirkt er.

Das Geheimnis im Zentrum des Geheimnisses

Ach ja, und da gibt es ja noch die Geheimtipps unter den Geheimtipps, die gut versteckten Flecken, die sich fast in jedem Quartier finden und doch von den meisten Paris-Besuchern schnöde ignoriert werden. So wie jenes winzige Karree im Marais-Viertel. Vier gepflegte Rasenstücke weist es auf, von zentimeterhohen Büschen und Metallleisten eingefasst. Leuchtende Kieswege, Staketenzäune, grüne Bänke und Rosen über Rosen, die sich hochranken in alle Richtungen, weiß, rot und rosa. Hagebuttensträucher schieben sich dazwischen, Laubengänge. Ein Areal von wenigen Quadratmetern.

Wer mag es angelegt haben? Die Stadtverwaltung, die Anwohner ? Unter der Woche verirren sich ab und zu Mütter mit Kinderwagen hierher und Schüler, vom Gymnasium um die Ecke, die sich an die Mauer lehnen, sich auf den Banklehnen ausbreiten und Zigaretten rauchen. In einem Wohnhaus gegenüber schlägt eine Tür zu, das Weinen eines Säuglings weht herüber. Rosenzüchtungen überall . . . Rose Céleste, Pierre de Ronsard . . . eine Rose Honorine de Brabant und da sogar eine, die nach Catherine Deneuve benannt ist. Wo sich dieser Jardin genau befindet? Und wie er heißt? Das verrate ich nicht . . .