Die Ukrainer entscheiden am Sonntag über ihre künftige Regierung. Ihre Wirtschaft steckt in der Krise, die Kämpfe der Regierungstruppen gegen die prorussischen Separatisten halten an. Die vorgezogene Parlamentswahl soll die Wende bringen.

Stuttgart - Die proeuropäischen Proteste der Ukrainer vom vergangenen Winter haben nicht nur einen frei gewählten Präsidenten gefordert, sondern auch einen politischen Neuanfang im Parlament, der Werchowna Rada. Am Sonntag finden die vorgezogenen Parlamentswahlen statt. Doch noch ist unklar, ob die erhoffte Wende eintreten wird. Aktuellen Umfragen zufolge wird die Präsidentenpartei „Block Petro Poroschenko“ (BPP) die meisten Stimmen bekommen: Die vier größten Meinungsforschungsinstitute sehen die Partei bei 30 bis 33 Prozent. Ob die Partei von Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk sich als zweitstärkste Kraft erweisen wird, ist indes ungewiss. Derzeit liegt die „Nationale Front“, der auch Parlamentspräsident Alexander Turtschinow und weitere Minister der jetzigen Regierung angehören, bei knapp sieben Prozent.   Nach aktuellem Stand scheint eher die „Vaterlandspartei“ der früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko zweitstärkste Kraft zu werden. Ihre konservativ-liberale Partei kommt bei Umfragen auf zehn bis zwölf Prozent.  

 

Während der frühere Parteifreund von Timoschenko, Arsenij Jazenjuk, seinen Posten behalten möchte, ist unklar, ob Timoschenko, wie angekündigt, in die Opposition gehen oder sich doch einer neuen Regierung anschließen wird.   Oleg Ljaschko, Anführer der populistischen „Radikalen Partei“, würde sich hingegen gerne an der Regierung beteiligen. Doch weder Poroschenko noch andere Kräfte wollen mit der undurchsichtigen Gruppierung zusammenarbeiten. Erst vor wenigen Tagen hat der bekannteste TV-Journalist der Ukraine, Savik Schuster, ausgesprochen, was seit langem hinter vorgehaltener Hand verbreitet wird: Ljaschko werde von dem prorussischen Oligarchen Sergej Lewotschkin bezahlt, der bis Anfang 2014 Leiter der Präsidialadministration des gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch war. Obwohl die „Radikale Partei“ seit 2012 mit Ljaschko nur einen Abgeordneten im Parlament hat, landete er bei den Präsidentschaftswahlen im Mai mit knapp neun Prozent auf dem dritten Platz. Dieses Mal könnte Ljaschko zehn bis elf Prozent bekommen.

Acht Parteien könnten ins Parlament einziehen

  Insgesamt wird acht politischen Gruppierungen der Einzug ins Parlament vorausgesagt. Allerdings werden Bündnissen wie der „Starken Ukraine“ des Oligarchen und früheren Wirtschaftsministers Sergej Tigipko, dem „Oppositionellen Block“, einer Vereinigung der Minister aus der Regierung Janukowitsch und der nationalistischen Swoboda-Partei, nicht mehr als sechs bis sieben Prozent zugetraut. Eine ähnliche Stimmenanzahl werden den Reformparteien „Selbsthilfe“ des liberalen Bürgermeisters der westukrainischen Stadt Lwiw, Andrej Sadowy, und der „Bürgerposition“ des früheren Verteidigungsministers Anatoli Gritsenko prognostiziert.

Auf den meisten Parteilisten finden sich Soldaten aus der Armee oder aus Freiwilligen-Verbänden. Ministerpräsident Jazenjuk hatte die Aufstellung der Kämpfer damit begründet, dass diese Gruppe in den politischen Prozess aktiv eingebunden werden müsse. Da die Bewohner der Krim durch die Besetzung Russlands von der Wahl ausgenommen sind, schrumpft die Zahl der Plätze im neuen Parlament von 450 auf 430. Diese werden je zur Hälfte durch Kandidaten von den Parteilisten besetzt, die andere Hälfte kommt über Direktmandate zustande.

Trotz der Ankündigungen der Übergangsregierung wurde das umstrittene Wahlgesetz von 2012 nicht verändert. Der im Februar gestürzte Präsident Viktor Janukowitsch hatte sich im Vorfeld der vergangenen Parlamentswahlen ein Gesetz maßschneidern lassen, mit dem er die Rada kontrollieren wollte.   Auch dieses Mal kandidieren vor allem wohlhabende Geschäftsleute für ein Direktmandat. Unabhängige Wahlbeobachter wie das Bürgernetzwerk „Opora“ kritisieren das scharf. „Damit ist nach 2012 auch 2014 der Vetternwirtschaft Tür und Tor geöffnet“, sagt Vitali Teslenko, Vorsitzender des Wählerausschusses der Ukraine – einer Nichtregierungsorganisation, die sich seit Jahren mit der Beobachtung von Wahlkämpfen und Wahlen beschäftigt. Die Familie von Viktor Baloga, einem der reichsten Männer der Westukraine und früherem Leiter der Präsidialadministration von Viktor Juschtschenko, steht exemplarisch für die Kritik. Die Balogas werden zu viert in die neue Rada einziehen. Neben Viktor bewerben sich auch seine Brüder Iwan und Pawlo sowie sein Cousin Vasili. Die meisten Direktkandidaten haben schon verkündet, sich der größten Parlamentsfraktion anzuschließen; etliche buhlen um ein Regierungsamt.   Der ungelöste Konflikt in der Ostukraine und die Annexion der Krim beherrschten den Wahlkampf. Der Krieg führt dazu, dass etwa fünf Millionen Wähler nicht an der Abstimmung teilnehmen werden. In den von prorussischen Rebellen besetzten Gebieten in Lugansk und Donezk sind nur wenige Wahllokale geöffnet. In der Region Donezk wird es in den insgesamt 32 Bezirken nur in 14 Wahlen geben. In Lugansk soll in fünf Wahlbezirken eine geregelte Stimmabgabe möglich sein. Die selbsternannten Anführer der „Volksrepubliken“ haben die Beteiligung verboten und wollen im November eigenständige Wahlen abhalten.  

Auch Flüchtlinge können Stimme abgeben

Die Zentrale Wahlkommission in Kiew hat Flüchtlingen angeboten, ihre Stimme in den Gebieten abzugeben, in denen sie untergebracht sind. Es müsse nur ein gültiger Ausweis vorgelegt werden, um sich ins Wählerregister eintragen lassen können. Wie viele davon Gebrauch machen, ist unklar. Die meisten Flüchtlinge haben Mühe, ihren Alltag in der Fremde zu regeln.

Auch sonst ist die Aufbruchsstimmung verflogen. Es gibt zu viele ungelöste Probleme. Das Land kämpft mit einer schweren Wirtschaftskrise. Die Landeswährung hat seit Jahresbeginn fast 65 Prozent an Wert verloren. Die Inflation liegt bei zwölf Prozent.  

Das Innenministerium erwartet am Wahlwochenende Provokationen. „Wir haben 60 000 Mann von der Polizei und der Nationalgarde im Einsatz“, sagt Innenminister Arsen Awakow. Man werde auch eine größere Menge an Zivilpolizisten in alle Landesteile schicken, damit die Wahlen „geordnet verlaufen können“.