In der Renaissance wurde die Zukunft erfunden. Wie die Wirklichkeit die utopische Phantasie irgendwann überflügelte und das bescheidene Online-Universum entstand, damit beschäftigt sich der StZ-Kolumnist Peter Glaser.

Stuttgart - Hier geht es in Zukunft um die Zukunft. Das StZ-Hausorakel Peter Glaser befragt einmal die Woche die Kristallkugel nach dem, was morgen oder übermorgen sein wird – und manchmal auch nach der Zukunft von gestern. Dazu als Bonus: der Tweet der Woche!

 

Es war in der Renaissance, als die Zukunft erfunden wurde – als ein utopisches Bild des Morgen. Zum ersten Mal erschien das Hinkünftige damals attraktiver als die Vergangenheit. Das Experimentelle, Neuartige erhielt Vorrang vor dem Erprobten und Traditionellen. Das Traumbild einer Neuen Welt, das nach dem 15. Jahrhundert in vielen Formen vom westlichen Menschen Besitz ergriffen hat, war ein Versuch, der Zeit und ihren Aggregationswirkungen - Tradition und Geschichte - zu entkommen. Man wollte sie gegen unbesiedelten Raum eintauschen.

Schließlich nahm die neue Welt revolutionäre Form an: als ein Versuch, die Lebensweise, die Gewohnheiten und die Ziele ganzer Bevölkerungen umzuformen. All die neuen, vorwärtsgerichteten Fluchtarten sollten in einem einzigen Komplex verbunden werden - einem neuen Himmel auf Erden, der entstehen würde, sobald Königtum, Feudalismus, Kirche und Kapitalismus verschwunden wären. Das Muster wiederholt sich nun mit der Ausbreitung des Internet.

Erstmals begann der menschliche Geist, sich frei in der Zeit zu bewegen

Die geografischen Entdeckungen hatten damals die räumlichen Bindungen an einen bestimmten Herkunftsort und eine bestimmte Kultur gelockert. Es löste sich auch die Bindung an die unmittelbare Gegenwart. Zum ersten Mal begann der menschliche Geist, sich frei in Vergangenheit und Zukunft zu bewegen, zu wählen und auszusuchen, zu antizipieren und projizieren, befreit von der Herrschaft eines tyrannischen Hier und Jetzt.

All die Kräfte, die durch die Erforschung unseres eigenen Planeten in Bewegung gesetzt worden sind, wurden später, ohne an Schwung zu verlieren und ohne die Methoden und Ziele erheblich zu ändern, auf die Erforschung des Weltraums übertragen - begleitet von den gleichen Fehlern: von demselben maßlosen Stolz, derselben Aggressivität, derselben Missachtung wichtiger menschlicher Bedürfnisse und demselben Beharren auf technischen Entdeckungen und rascher Fortbewegung als vermeintliches Hauptziel des Menschen.

Im 19. Jahrhundert hatten wissenschaftliche Experimente beinahe innerhalb einer einzigen Generation zu Erfindungen geführt, die kaum etwas aus einer früheren Technologie übernahmen: Telegrafie, Dynamo und Elektromotor. Innerhalb von zwei Generationen wurden das elektrische Licht, das Telefon, die drahtlose Telegrafie und die Röntgenstrahlen erfunden. Alle diese Erfindungen waren zuvor nicht nur undurchführbar, sondern auch technisch unvorstellbar gewesen, ehe die reine wissenschaftliche Forschung sie zu realen Möglichkeiten machte. Dieser Art von Wirklichkeit war die utopische Phantasie nicht gewachsen.

Das Online-Universum ist demgegenüber bescheiden. Alles in ihm ist nur anscheinend. Die Automation der Automation wurde von Derek John de Solla Price (er hat die Scientometrie erfunden, mit der man Wissenschaft quantitativ messen kann) mit spitzer Feder als Irrationalität aufgespießt. Price errechnete, dass bei der gegenwärtigen Wachstumsrate der wissenschaftlichen Produktivität in ein paar Jahrhunderten auf jeden Mann, jede Frau, jedes Kind und jeden Hund auf unserer Erde Dutzende Wissenschaftler kommen würden.

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