Vor dreißig Jahren lernten wir uns kennen. In Salzburg. Ich war in Tübingen losgefahren, aber Peter Handke hat mich von Anfang an als einen wahrgenommen, der vom Balkan kommt. Er wollte in mir den Serbokroaten sehen. So stellte er mich einigen seiner Begleiter – Martin Lüdke und Marie Colbin – vor. Damals wirkte das große Jugoslawien noch „stabil“. Peters Wortschöpfung, Serbokroate, hätte zur Gänze für mich erfunden sein können. De facto war ich damals Jugoslawe, geboren und aufgewachsen in Serbien, und Serbokroatisch war meine Muttersprache.

 

Handkes Ansichten regen an und scheiden die Geister

Peter Handkes Ansichten und Formulierungen erschienen mir schon bei unserer ersten Begegnung, und dann immer wieder bis heute, zumindest vieldeutig, werfen sie doch Fragen auf, regen Diskussionen an, scheiden die Geister und führen mitunter auch zu exzessiven Krächen.

Meine erste Begegnung mit Peter Handke lebt in meiner Erinnerung wie ein spannender Spielfilm fort, in dem wir zwei die Hauptrollen spielten, beide Regie führten, für den wir die Musik komponierten und das Drehbuch schrieben. Es war im Wortsinn eine Begegnung von Autoren. Letztlich sprachen wir auch über Filme, beriefen uns auf Godard und Éric Rohmer, stritten über cineastische Fragen, söhnten uns wieder aus und so weiter.

Zu der Zeit arbeitete Peter an Büchern, die für mich zu Schlüsselwerken dieser Schaffensphase wurden: „Die Wiederholung“, „Die Abwesenheit“ und „Nachmittag eines Schriftstellers“. Später, beim Übersetzen des „Nachmittags eines Schriftstellers“, stellte sich dasselbe Gefühl ein wie bei unserer ersten Begegnung in Salzburg; es war, als streiften wir erneut durch die Straßen auf der Suche nach einem Ort, wo wir in Ruhe reden konnten; und mir fiel auf, dass die Wege auch in Handkes Büchern allesamt an den Stadtrand führen.

Zu der Zeit arbeitete Peter an Büchern, die für mich zu Schlüsselwerken dieser Schaffensphase wurden: „Die Wiederholung“, „Die Abwesenheit“ und „Nachmittag eines Schriftstellers“. Später, beim Übersetzen des „Nachmittags eines Schriftstellers“, stellte sich dasselbe Gefühl ein wie bei unserer ersten Begegnung in Salzburg; es war, als streiften wir erneut durch die Straßen auf der Suche nach einem Ort, wo wir in Ruhe reden konnten; und mir fiel auf, dass die Wege auch in Handkes Büchern allesamt an den Stadtrand führen.

Auf dem Boden der Tatsachen

Heute geht mir durch den Kopf: Gehört es nicht zu den Pflichten jedes Übersetzers, sich vor oder während des Übersetzens auf den Boden der im übersetzten Buch beschriebenen Tatsachen zu begeben? Bin ich nicht deswegen später gemeinsam mit einem der Handke-Übersetzer ins Englische, dem Amerikaner Scott Abbott, durch Kärnten und Slowenien gereist, den Schauplätzen von Handkes „Wiederholung“ und später auch des Theaterstücks „Immer noch Sturm“, das ich derzeit ins Serbische übersetze? Ich spinne meine Überlegungen weiter: Träumt nicht jeder Übersetzer davon, mit seinem Autor durch die realen Orte zu flanieren, an denen das Buch spielt, das er gerade übersetzt? Der Übersetzer von Franz Kafka würde – stelle ich mir vor – doch alles geben, könnte er mit seinem Autor eine Viertelstunde lang durch dessen Prag streifen, das in vielen Kafka-Texten viel mehr ist als nur Kulisse.

In diesem Sinn frage ich mich: Bin ich nicht der privilegierteste Übersetzer überhaupt? Seit 1995 unternehme ich mitunter mehrmals pro Jahr Reisen mit dem Autor der Bücher, die ich übersetze. Gemeinsam besuchten wir Orte, die ich beim Übersetzen wiedererkannte. Übersetzend konnte ich sagen: „Ja, genau so war es.“ Oder: „Nein, hier weicht der Schriftsteller von der Wirklichkeit ab“; dank der gemeinsamen Reisen kann ich die Stellen benennen, an denen sich die Welt der Wirklichkeit und die der Fiktion trennen.

Erleben, wovon nicht berichtet wird

Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, an ein Gespräch in Bor, einem Ort in Ostserbien. Wir saßen in einem Imbiss gegenüber dem Tor zu einer Zeche. Es war eine Bruchbude, zusammengezimmert aus Sperrholzplatten und Blech. Trotz aller Improvisation seitens des Bauherrn dieses auch uns bald schon vertrauten Lokals war es drinnen gemütlich. An den Wänden hingen Poster mit Fußballern oder Pin-up-Girls und ein Porträt des ehemaligen Vorsitzenden, Josip Broz Tito. Auf dem Tisch ein Krug mit ausgezeichnetem Weißwein aus der Gegend, und wir – Zlatko B., Peter Handke und ich – drängten uns darum wie Schafe im Schatten eines Baumes bei brütender Hitze. Dabei war es draußen kalt. Wir fühlten uns geborgen. Aus dem Radio drang leise, aber hörbar serbische Volksmusik. Wir saßen wie die Zwerge auf Hockern, von denen keiner wie der andere war, alle unterschiedlich hoch, sahen unverwandt zur Kellnerin hinüber, einer bildhübschen Frau, sehr stolz in ihrer Haltung, und erzählten von unseren Liebschaften, den geheim gehaltenen wie den offen ausgelebten. Später, als ich „Don Juan (erzählt von ihm selbst)“ übersetzte, erkannte ich viele Details aus jenem Gespräch wieder, ich erkannte uns, die wir an jenem ungewöhnlichen Abend lange im Städtchen Bor verweilten, vermutlich eben wegen dieser Novelle. Auf der Suche nach einem Motiv, nach Helden, nach Erzählungen in spe.

Waren Handkes Reisen, ob nun mit mir oder ohne mich, etwa keine „Studienreisen“, Vorarbeiten für sein späteres Schreiben? So war es doch in Velika Plana an der Morawa, in Bajina Basta an der Drina, in Smederevo an der Donau oder in Zemun, meiner Heimatstadt, die ebenfalls an der Donau liegt, oder? Auch in Srebrenica, zumal man darüber schon alles wusste; wir sind doch dort gewesen, um das zu erleben, worüber nicht berichtet wurde: wie der trockene Frühlingswind Plastiktüten losriss, die sich in zerbrochenen Fensterscheiben verfangen hatten, den leeren Blick der Passanten in den Straßen der Geisterstadt, eine Stille wie nach einem Überschallknall, nur in zeitlich umgekehrter Richtung, sie dröhnte uns in die finstere Vergangenheit, in ewigen Unfrieden und Zweifel. Die Gesetze des Erzählens sind unbarmherzig, weil die Worte einer Erzählung auch vom Unausgesprochenen erzählen und weil sie den Leser verwirren, denn er ist nicht an „Abweichendes“ gewöhnt, selbst wenn der Wortlaut sattsam Bekanntes wiedergibt.

Texte von tiefer Wahrhaftigkeit

Eins ist sicher: Hätte ich Peter Handke nicht persönlich kennengelernt, würde ich seine Bücher stets als Berichte von Reisen in Gegenden erleben, die ich am liebsten augenblicklich selber aufsuchen würde. Da ich mit dem Schriftsteller an den Schauplätzen seiner Erzählungen war, bevor sie in sein Schreiben eingingen, weiß ich um die tiefe Wahrhaftigkeit seiner Texte.

Einmal sah ich in den Augen eines Lesers der „Morawischen Nacht“, der von der Morawa stammte, das Glück. „Im Buch ist schon vieles anders, aber beim Lesen hatte ich plötzlich das Bedürfnis heimzufahren“, sagte er mir. Und ich bin überzeugt, dass selbst die Leser aus Handkes Geburtsstadt Griffen, die ihm vorwarfen, er habe sie beim Fußballspielen beobachtet und dann als Material für die „Angst des Tormanns beim Elfmeter“ benutzt, stolz waren, dass sie, wenn auch in veränderter Gestalt, im Buch Erwähnung fanden. Gerade so wie es Zlatko und mich sehr erheiterte, als wir in der „Morawischen Nacht“ – Zlatko beim Lesen, ich beim Übersetzen – auf die Stelle „Jeder saß an seinem Tisch“ stießen, genau wie damals, als wir drei auf dem Deck des Hotelschiffs in der Morawa, wo wir übernachtet hatten, jeder für sich frühstückte, jeder an einem anderen Tisch, und lange schwiegen, am Morgen nach einem erbitterten Streit, bei dem ein Wort das andere gegeben hatte. Später haben wir uns allerdings wieder versöhnt, sachte Kontakt aufgenommen, uns Zuneigung und Achtung geschenkt.

Rohstoff für eine neue Erzählung

Auch nach dreißig Jahren Freundschaft mit Peter Handke beeindruckt mich noch immer der scharfe Blick des Schriftstellers, durch den seine faszinierenden Schilderungen entstehen, wahre Bilder der Erlebnisse, die der Kern jedes Erzählens sind. Zutiefst bewegt mich noch immer Handkes zielsichere Konsequenz bei der Auswahl der geschilderten Erlebnisbilder. Die Landschaften, durch die wir fuhren, aber auch die, die ich nicht selbst bereist habe, sind für mich, sofern in Handkes Büchern beschrieben, gleich weißen Flecken im Blickfeld nach kräftigem Drücken auf die Augenlider, zugleich auch wie wenn über diese ein sanfter Lufthauch streift.

Habe ich, Handkes Übersetzer, diese Bilder während der Kriege auf dem Balkan etwa nicht als rettendes Licht am Ende des Tunnels voller Schrecken erlebt? Großartige Bilder aus Alaska, Griffen, Paris, Bajina Bašta, Porodin, Zemun, Logroño, Thessaloniki, von den Bergketten der Fruska Gora, Sierra de Gredos, Saint Victoire und des Harz, von Daimiel, Majdanpek, Sokolac, der Insel Krk, dem Dorf Tomaj, von Damaskus, Sarajevo, Trebinje, dem japanischen Aomori, Split, München, Salzburg. Natürlich auch von Velika Hoca im Kosovo, wo Peter Handke heute – oder habe ich das nur geträumt? – seinen Siebzigsten feiern wird; Rohstoff für eine neue Erzählung . . .