Das italienische Unternehmen Pirelli stellt schnöde Autoreifen her, wirbt in seinem legendären Kalender aber mit schönen Frauen aus aller Welt – eine kluge Marketingstrategie.

Rio de Janeiro - Ein Autoreifen ist schwarzgrau und rund, und so wird er wohl immer bleiben. Ein hoffnungsloser Fall also für Designer und Stylisten, die selbst aus einer Zahnbürste ein hyperdynamisches Turbo-Schmuckstück machen können, und natürlich auch für die Werbebranche: Wie soll man einen so biederen Gegenstand mit Haben-wollen-Sehnsüchten aufladen?

 

Der italienische Reifenhersteller Pirelli hat vor knapp 50 Jahren die Lösung gefunden: den Pirelli-Kalender, der das schmuddelige Genre des Autowerkstatt-Pin-ups in die Sphäre von Kunst und Kult verschiebt. Die neue Ausgabe für 2013 hat Pirelli am Dienstag in Rio de Janeiro vorgestellt, wo auch die Bilder geschossen wurden.

Dieses Jahr hatte der Fotograf Steve McCurry die Ehre

Der amerikanische Starfotograf Steve McCurry hat drei Jahrzehnte lang vor allem Asien bereist, und seine Bilder sind mit Preisen und Prämien überhäuft worden. Den begehrten ersten Preis des World-Press-Photo-Wettbewerbs hat McCurry viermal gewonnen. Sein bekanntestes Foto zeigt Sharbat Gula, ein Mädchen aus Afghanistan, in dessen intensiven Augen der ganze Schrecken des Krieges zu liegen scheint. Und deshalb sei er überrascht gewesen, als Pirelli ihn gefragt hat. „Ich bin ja schließlich nicht als Modefotograf bekannt.“

Statt der Armen, der Leidenden, der um ihre Würde Kämpfenden an den elendsten Flecken der Erde nun extrem gut bezahlte, weltbekannte Models vor der Kulisse der brasilianischen Metropole, die gerade hip und trendy wird wie kaum eine andere Weltstadt – ist das nicht ein Widerspruch? „Überhaupt nicht“, sagt der 62-jährige Altmeister am Dienstag in Rio de Janeiro, „die Models geben doch ihre Zeit – die bei ihnen Geld ist, viel Geld sogar – für den guten Zweck, die Welt ein bisschen besser zu machen“.

Die Models engagieren sich – oder tun zumindest so

Denn die Models, so schön, so sexy und so glamourös sie in Rio vor McCurrys Kamera posieren, unterstützen alle ein humanitäres Projekt – das ist das Leitmotiv des Kalenders 2013. „Und mit dem Kalender können wir etwas Bewusstsein für das schaffen, was sie tun.“ McCurry bezeichnet sich – etwas kokett für einen Star wie ihn – als Straßenfotograf, weil er an den exotischen Orten dieser Welt einfach losmarschiert, sich seine Objekte quasi auf der Straße sucht und fast immer unter freiem Himmel aufnimmt. Dass er diesmal mit professionellen Models arbeiten musste, machte dennoch keinen Unterschied. „Ich wollte sie ja als reale Menschen zeigen, nicht als Models“, sagt er, „auch wenn sie natürlich nicht aus ihrer Haut können und sich immer wie Profis verhalten“.

Zum Beispiel Summer Rayne Oakes. Die 1986 geborene Amerikanerin hat Ökologie und Insektenkunde studiert und präsentiert sich als Öko-Topmodel. „Ich arbeite nur mit Marken, die meine ökologischen und sozialen Werte teilen“, sagt die braunhaarige Schöne selbstbewusst. Und wie sieht das dann aus mit dem Pirelli-Konzern, dessen heftiges Engagement in der Formel 1 ja nicht gerade ein Musterbeispiel ökologischer Korrektheit ist? „Es gibt eben unterschiedliche Realitäten“, weicht Oakes aus, und Pirelli habe ja schließlich einen Nachhaltigkeitskoordinator.

Bei der Präsentation des opulenten Kalenders mit 34 Fotos stehen sie auf der Bühne, die Schönen, und stellen kurz ihre Projekte vor: Die Brasilianerin Adriana Lima etwa setzt sich für Haiti ein, die Amerikanerin Kyleigh Kuhn für Afghanistan und die Tschechin Petra Nemcova für Kinder, die Naturkatastrophen wie den Tsunami 2004 überlebt haben. Der Kalender sei eine wunderbare „Plattform für den Wandel, der sich in Ägypten, Haiti oder Afghanistan bemerkbar machen wird“, sagt eine von ihnen, und die anderen nicken artig.

Der Kalender verkörpert Glanz und Glamour

Aber diese Verbindung zwischen dem Hochglanz-Kalender und dem Elend der Welt und seiner Bekämpfung ist, gelinde gesagt, konstruiert: Was der Kalender zeigt, sind schöne Fotos von schönen Frauen vor schöner Kulisse, nicht mehr und nicht weniger. Und so sehr McCurry und die Pirellis die Dynamik, der Fortschrittswille, der Erfolg des aufstrebenden Brasilien beschwören – der Amerikaner zeigt, farbsatt und oft regenglänzend, eher ein morbides, geheimnisvolles, tropisch-exotisches Rio als ein modernes und trendiges. Von den humanitären Projekten der Models handelt der Kalender nicht.

Von Autoreifen auch nicht, und das ist das werbestrategisch Bemerkenswerte daran. Der Kalender stärkt nicht das Produkt, sondern die Marke. Nicht der schnöde Reifen, sondern ein externes Kunststück wird mit den Inhalten aufgeladen, die sich eigentlich jede Firma für ihre Produkte wünscht: Ansehen und Anziehungskraft, Sinnlichkeit und Sehnsucht, Glanz und Glamour. Wenn nun der Autoreifen durch einen externen Träger der Sinnlichkeit ergänzt wird, ist es kein Wunder, dass auch ein anderer Reifenhersteller auf diese Idee gekommen ist. Pirelli mit seinem Kalender benützt die Sinnlichkeit der Erotik, Michelin mit seinem Sterne-Diktat die der Kulinarik.

Die künstliche Verknappung, die Pirelli kultiviert, steigert den Effekt. Nur 20 000 Kalender werden gedruckt. Deutschland kriegt knapp 900 davon ab. Und sie werden nur verschenkt, nie verkauft. „Das ist wie die VIP-Lounge beim Fußball, da können Sie auch keine Eintrittskarte kaufen“, sagt ein Pirelli-Mann, „da muss Sie schon Beckenbauer eingeladen haben“.