Sie sind klein, niedlich und jetzt schon 20 Jahre alt: zum Jubiläum lassen es die Pokémon von Nintendo nochmal richtig krachen. Dabei haben sie ihre besten Zeiten längst hinter sich.

Stuttgart - Wer heute vor knapp 20 Jahren die Grundschule besucht hat, erinnert sich an sie: kleine, tierähnliche Monster aus Japan entweder als Sammelkarten oder auf dem Gameboy. Die Rede ist von den „Pocket Monstern“ oder kurz Pokémon. Je nachdem, welche Perspektive man einnimmt, waren sie ein begehrtes Tauschobjekt (Schüler), die Geißel der großen Pause (Lehrer) oder ein Fass ohne Boden fürs Taschengeld (Eltern).

 

Die gute Nachricht für alle juristisch und geistig Erwachsenen: der Hype hat Mitte der Zweitausender Jahre nachgelassen, auch weil Mitbewerber das Prinzip kopiert haben, beispielsweise Digimon oder Yu-Gi-Oh. Die gute Nachricht für alle Spielkinder: zum 20. Jubiläum klotzen die kleinen Monster ordentlich ran, denn die Begeisterung für Pokémon ist keineswegs tot.

Die Superbowl-Halbzeit als Auftakt

Zum Auftakt der Jubiläums-Offensive schaltete der Kinderunterhaltungsprimus einen Werbespot beim Superbowl, dem meist beachteten Sportereignis in den USA. Im Lauf des Jahres soll von allem was es bisher zu Pokémon gibt noch ein bisschen mehr herausgebracht werden: Videospiele, Sammelkarten, die Anime-Serie und digital überarbeitete Versionen der Zeichentrickfilme – Merchandising inklusive.

Die wenigen Zahlen, die die Pokémon Company, ein Teilunternehmen von Nintendo, zum Jubiläum veröffentlicht, sind beachtlich: mehr als 277 Millionen verkaufte Videospiele, eine Zeichentrickserie mit mehr als 800 Folgen, 19 Spielfilme und 21,5 Milliarden Sammelkarten in elf Sprachen. Statistisch gesehen kommen also auf jeden Menschen auf der Erde drei Pokémon-Karten. Das Branchenportal „License Global“ listete die Pokémon Company International, die für die Lizenzierung von Pokémon-Produkten in allen Regionen der Welt außer Asien und Australien zuständig ist, auf Platz 40 der größten Lizenzgeber weltweit – vor Coca Cola, Lego oder Sony Pictures. Jährlich soll das in London und im US-Staat Washington sitzende Tochterunternehmen zwei Milliarden US-Dollar allein mit Lizenzgeschäften einnehmen.

Backpacking und Welterforschung

Wie es dazu kommen konnte, dass die Erfindung des Videospielentwicklers Satoshi Tajiri, der als Kind selbst gerne Insekten im Wald gesammelt hat, in kürzester Zeit Kinder auf der ganzen Welt faszinierte, kann heute niemand mehr so richtig erklären. Manche führen es auf den Abenteuer-Aspekt der Geschichte zurück. Der Protagonist, der zehnjährige Ash Ketchum (im japanischen Original Satoshi), geht auf Reisen, um Pokémon zu sammeln, zu trainieren und bei Turnieren mit ihnen zu gewinnen. Im Grunde Backpacking, bevor es zum Trend wurde, gepaart mit einem kindlichen Welterforschungstrieb. „Schnapp sie dir alle“, ist das Motto für die Pokémon-Sammler.

Andreas Lange erklärt den Hype anders: „Pokémon hat als erstes Spiel das Sammelkartenprinzip auf Videospiele übertragen.“ Lange ist Leiter des Computerspielemuseums in Berlin und weiß, wie es um den Konsolen- und Spielehersteller Nintendo vor 20 Jahren stand: „Nintendo stand mit dem Rücken zur Wand“, sagt er. Durch die Einführung der Playstation von Sony war der Konkurrent in die Defensive geraten. „Pokémon hat Nintendo gerettet“, ist sich Lange sicher. Und das ausgerechnet auf dem Gameboy, einer 1996 bereits veralteten mobilen Spielkonsole. Mit Hilfe eines Datenkabels konnte man die kleinen Monster von einer Maschine auf die andere übertragen. Der digitale Tauschhandel war eröffnet.

Nintendo bricht mit einer Tradition

In den USA und in Europa lief das Spiel jedoch erst 1998 an – zu einem Zeitpunkt, als Pokémon in Japan bereits die Spitze der Verkaufscharts erreicht hatten. Das Gameboy-Spiel war aber nur ein Bestandteil einer groß angelegten, crossmedialen Vermarktungsmaschinerie mit TV-Serie, Sammelkarten und bald auch dem ersten Kinofilm. So entstand ein eigener Kosmos, in seinen Dimensionen nur noch vergleichbar mit der Star Wars-Saga.

Ähnlich wie bei dem Weltraum-Märchen der neueste Film die Merchandising-Maschinerie wieder gut geschmiert hat, soll nun ein weiterer Meilenstein das Sammelfieber neu entfachen: mit „Pokémon Go“ bricht Nintendo mit der Tradition, seine Software nur auf der eigenen Hardware zu vertreiben.

Das Spiel läuft auf dem Smartphone und bindet die Umgebung des Spielers ein. Co-Entwickler neben Nintendo ist die Firma Niantic, die bereits mit dem Augmented-Reality-Spiel „Ingress“ für Furore gesorgt hat. In der Spielebranche blickt man derzeit gespannt auf Japan, wo jüngst die Testphase des Spiels begonnen hat. Andreas Lange vom Computerspielmuseum ist sich sicher: „Das neue Spiel bietet eine Menge Chancen für Nintendo, sich neu am Markt zu positionieren.“ Für Lehrer und Eltern könnte wohl bald wieder eine schwere Zeit anbrechen.