Vor vierzig Jahren lief die erste Folge von „Polizeiruf 110“, eine Erfindung des DDR-Fernsehens. Nach der Wende überlebte die Sendung.

Stuttgart - Am Anfang war der "Tatort". Als die Krimireihe im Herbst 1970 auf Sendung ging, wurde sie prompt zum Straßenfeger; im Westen wie im Osten. Erich Honecker persönlich, so wird überliefert, habe sich damals über die Langeweile im Fernsehen der DDR beschwert. Der Staatsratvorsitzende forderte mehr Spannung und Unterhaltung, und so geschah es: Am 27. Juni 1971 lief "Der Fall Lisa Murnau", der erste Film aus der neuen Reihe "Polizeiruf 110". Das ist der Beginn einer Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält und alles andere als selbstverständlich ist: das Format ist als einziges DDR-Erbe ins Erste integriert worden.

 

Bereuen musste die ARD die Übernahme nie. Die "Polizeiruf"-Ermittler sind in der Quote meist nicht ganz so erfolgreich wie die "Tatort"-Kollegen, aber dafür sind die Geschichten oft komplexer und entsprechend anspruchsvoller. Das ist nicht zuletzt eine Frage der größeren inhaltlichen Freiheit. Während ein "Tatort" seit jeher mit einem Mord zu beginnen hat, kann ein "Polizeiruf" auch mal komplett ohne Kapitalverbrechen auskommen. Schon zu DDR-Zeiten waren Lebensnähe und sozialpsychologisch begründbare Tatmotive ausdrücklich erwünscht.

Mord und Totschlag waren die Ausnahme

Der "sozialistische Gegenwartskrimi" sollte zudem einen gewissen Gebrauchswert haben; "Die Kriminalpolizei rät" als Spielfilm gewissermaßen. Die Drehbücher entstanden daher in regem Austausch mit dem Ministerium des Inneren. Dort wurde nicht nur die fachliche Korrektheit überprüft, sondern auch die Nützlichkeit. Kein Wunder, dass die Ermittler mitunter recht oberlehrerhaft daherkamen. Aber sie sollten ausdrücklich keine überlebensgroßen Helden sein, sondern solide Repräsentanten des Arbeiter- und Bauernstaats. Konsequenterweise waren ihre Gegenspieler nicht Teil des Kollektivs, sondern Außenseiter. Und damit das heile Bild des real existierenden Sozialismus' keine Kratzer bekam, waren Mord und Totschlag die Ausnahme.

Erst in den Achtzigern öffnete sich die Reihe für gesellschaftliche Konflikte. Nach wie vor aber spielte Aufklärung eine wichtige Rolle, wenn beispielsweise die Volksdroge Alkohol als Ursache vielen Übels gegeißelt wurde. Ausgerechnet dieser aufklärerische Ansatz hat allerdings zu einem Vorgang geführt, der im Westen einen handfesten Skandal verursacht hätte: 1975 verschwand der kurz zuvor fertiggestellte "Polizeiruf"-Beitrag "Im Alter von..." auf Anordnung von "ganz oben" in der Versenkung. Nach stalinistischem Vorbild sollte die Produktion regelrecht ausgelöscht werden.

Die Folge, die nie gezeigt werden durfte

Dabei war es zunächst darum gegangen, die Bevölkerung über die Existenz pädophiler Sexualmörder zu informieren. Zwischen 1969 und 1971 hatte der Lehrling Erwin Hagedorn drei Jungen auf grausame Weise ermordet. Der Fall sollte als Vorbild für eine Folge dienen. "Polizeiruf 110" hatte ohnehin viel früher als der "Tatort" von Sittlichkeitsdelikten erzählt. Ein erstes Drehbuch orientierte sich allerdings zu eng an den authentischen Ereignissen. Eine neue Version des routinierten Regisseurs Heinz Seiberts konzentrierte sich stärker auf die Arbeit der Ermittler. Kurz vor Ende der Dreharbeiten aber änderte das Ministerium des Inneren seine Meinung. Seibert konnte noch einen Rohschnitt produzieren, dann wurde er kaltgestellt. Er blieb zwar Angestellter des Deutschen Fernsehfunks, bekam aber keine Aufgaben mehr. Auslöser dieser Entwicklung war ein westdeutscher Journalist: Friedhelm Werremeier, Krimiautor und Verfasser des ersten "Tatort"-Films ("Taxi nach Leipzig"), hatte rausgefunden, dass Kindermörder Hagedorn noch minderjährig war, als er die beiden ersten Morde begangen hatte. Trotzdem war er in der DDR zum Tode verurteilt und als letzter Verbrecher hingerichtet worden.

Um nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, sollte die Folge "Im Alter von..." nie gezeigt werden. Ein tonloses Negativ tauchte zwar zur Wendezeit vor zwanzig Jahren wieder auf, verschwand aber in den Untiefen des Deutschen Rundfunkarchivs. Als vor zwei Jahren zufällig das Drehbuch gefunden wurde, wurde der Film für das "Polizeiruf"-Jubiläum jetzt mit Hilfe alter und aktueller "Polizeiruf"-Schauspieler wie Andreas Schmidt-Schaller, Jaecki Schwarz und Anneke Kim Sarnau neu synchronisiert.

Die neue "Polizeiruf"-Generation setzt auf Kontrast

Interessant ist der Film allerdings nur in (fernseh-)historischer Hinsicht. Darin unterscheidet er sich jedoch nicht von den zeitgleich entstandenen "Tatort"-Krimis. Beide Reihen haben sich inhaltlich und formal permanent weiterentwickelt. Dass in Sachen "Polizeiruf 110" derzeit nur in den ostdeutschen Städten Halle, Rostock und Potsdam ermittelt wird, ist eher Zufall als Methode, zumal es demnächst mit Matthias Brandt auch wieder einen Münchener Hauptkommissar gibt. Die Beiträge des WDR (aus dem Sauerland) und des Hessischen Rundfunks (aus Bad Homburg) bereicherten die Reihe um einige wunderbare Krimikomödien.

Sieht man mal vom etwas in die Jahre gekommenen Gespann aus Halle ab, sind die aktuellen Teams aus ganz anderem Holz. Die neue "Polizeiruf"-Generation setzt voll auf Kontrast. Gerade im gemischten Doppel liegt der große Reiz der Duos.

In Potsdam treffen mit der jungen Novizin Olga Lenski (Maria Simon) und dem ebenso korpulenten wie stets korrekten Polizeihauptmeister Krause (Heinrich Krause) die denkbar größten Gegensätze aufeinander. Buch und Regie stammen von Bernd Böhlich, der auch schon zu DDR-Zeiten für die Reihe gearbeitet hat. Mit Leutnant Vera Arndt standen Frauen im "Polizeiruf" übrigens deutlich früher im Mittelpunkt als in den Krimis aus dem Westen: Sigrid Göhler wirkte schon im ersten Film mit und rückte mehr und mehr in den Mittelpunkt. Der sozialkritische Ansatz ist der Reihe ebenfalls erhalten geblieben; sicherlich auch ein Grund für die vielen Auszeichnungen mit allen nur denkbaren Fernsehpreisen, über die sich Sender und Macher Jahr für Jahr freuen können.