Die Norwegerin Marie Ulven, die sich als Musikerin Girl in Red nennt, ist eine LGBT-Ikone. Jetzt ist ihr Debütalbum „If I could make it go quiet“ erschienen – eine turbulente Zoom-Begegnung mit der Popsensation der Saison.
Stuttgart/Oslo - Marie Ulven sucht außer Atem nach einem Messer. Sie rennt durchs Haus und hält sich dabei die Handykamera vors Gesicht, redet viel, redet schnell. Sie kann so etwas. Schließlich ist sie nicht nur Musikerin, sondern auch Instagram- und Tiktok-Profi. In der Küche wird sie fündig. Aus dem Off ist ein Ritsch-Ratsch zu hören. Marie Ulven kreischt. Sie dreht ihr Handy um. In dem Paket, das sie hektisch ausgepackt hat, liegt ein Stapel mit den allerersten Vinyl-Exemplaren ihres Debütalbums. „Das ist gerade einer der großartigsten Momente in meinem Leben“, sagt sie und entschuldigt sich, dass sie vor lauter Aufregung fast vergessen hätte, dass wir uns gerade mitten in einem Zoom-Interview befinden.
Queer-Pop – was ist das?
Das Album, auf das die 22-jährige Norwegerin so stolz ist, heißt „If I could make it go quiet“. Und Marie Ulven ist nicht die Einzige, die ungeduldig darauf gewartet hat. Unter ihrem Künstlernamen Girl in Red ist die Sängerin, Songwriterin und Produzentin schon seit ein paar Jahren das, was man ein Internetphänomen nennt. Mit großartigen Liedern, in denen sie immer wieder auch offen-unverkrampft thematisiert, was es heißt, lesbisch zu sein, mischt sie den Popzirkus auf. Die knuffige Indiepop-Nummer „I wanna be your Girlfriend“ hat die „New York Times“ 2018 in die Liste der besten Lieder des Jahres gewählt. Spotify und Youtube projizierten ihr Gesicht riesengroß auf Videowände am Times Square. Ulven ist der Popstar der LGTB-Community, das Postergirl des Queer-Pop: „Dabei habe ich gar keine Ahnung was das sein soll: Queer-Pop? Für mich gibt es nur Pop. Ich finde nicht, dass der Begriff meine Musik gut beschreibt, ich finde nicht, dass der Begriff die Musik anderer lesbischer, schwuler oder transsexueller Künstler gut beschreibt. Pop ist Pop. Sexualität ist kein Sound.“
Girl in Red im Urban Slang
Stolz macht es sie trotzdem, dass es ihr Künstlername ins Urban-Slang-Wörterbuch geschafft hat. Hinter der Frage „Do you listen to Girl in Red?“ (Hörst du gerne Girl in Red?) verbirgt sich die Frage: Bist du lesbisch? Ein Undergroundprojekt hat Großstädte überall auf der Welt mit genau dieser Frage plakatiert. „Es ist schon verdammt cool, wenn einem so eine kulturelle Bedeutung zugeschrieben wird. Und ich wäre natürlich stolz darauf, wenn ich dazu beitragen kann, dass Mädchen, die ineinander verknallt sind, letztlich durch mich zusammenfinden.“
Tatsächlich tut man der Frau aus Oslo aber Unrecht, wenn man sie auf den Queer-Pop-Hype reduziert. Dazu ist ihre Musik viel zu gut. Da ist zum Beispiel der fies zuckende Smash-Hit „Serotonin“, den sie mit Finneas, dem großen Bruder von Billie Eilish, aufgenommen hat und der das Album „If I could make it go quiet“ eröffnet: Das Lied windet sich um einen nervösen Bass-Drum-Beat, der geeignet ist, Herzrhythmusstörungen zu verursachen, und zu verwunschenen Gitarrenschnörkeln spielt Ulven eine Verzweifelnde, die all die fürchterlich dummen Dinge aufzählt, die sie sich selbst antun möchte, weil ihr Glückhormon-Haushalt durcheinandergeraten ist.
Musik ist kein Ersatz für Therapie
Heißt das, man muss sich Sorgen um Marie Ulven machen? „Nein, ich glaub zwar, dass Musik zu machen für mich eine therapeutische Wirkung hat“, sagt sie, „aber ich halte es für einen romantische Irrglauben, dass man traurig sein muss, um traurige Lieder zu schreiben. Ich bin auf jeden Fall besser, wenn ich gerade glücklich bin. Es wäre ja auch schrecklich, wenn ich nicht mehr zur Therapie gehen würde, nur weil ich Angst hätte meine Inspiration zu verlieren.“
Auf dem Album erkundet sie zwar weiterhin gerne ihre eigene Sexualität, erzählt zum Beispiel im putzigen Popsong „hornylovesickmess“ vom Triebstau, und spielt die treulose Seele, wechselt dann auf die andere Seite und betört mit sehnsüchtigen Dreampop-Nummern wie „Midnight Love“ oder „Rue“. Anders als ihre frühen Songs gehen die raffiniert inszenierten Stücke auf ihrem Debütalbum jedoch nur noch selten als Schlafzimmerpop durch – da der Billie-Eilish-Rap in „Serotoin“, dort der soulige R-’n’-B-Groove von „Body and Mind“, hier der Dancetrack „I’ll call you mine“, dort der Indierocker „You stupid Bitch“. Jeder Song klingt wie ein neues, aufregendes Abenteuer, wie ein Sich-immer-neu-selbst-Ausprobieren.
Das Coming Out einer einsamen 14-Jährigen
Tatsächlich war das Musikmachen ihr eigentliches Coming-out (das andere folgte ein, zwei Jahre später): „Ich fühlte mich als 14-Jährige ziemlich einsam“, sagt sie, „und ich fand die Vorstellung cool, jemand zu sein, der Gitarre spielen kann. Außerdem dachte ich, ich brauchte mehr in meinem Leben, um mich nicht ganz so eingesperrt zu fühlen in dieser Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin.“
@girlinred ♬ original sound - girl in red
Glaubt man ihrem Instagram-Account, ist sie inzwischen weder einsam noch im Kleinstadtleben eingesperrt – zumindest, wenn nicht gerade Pandemie ist. Man sieht sie auf Partys, beim Stage-Diving und beim Posen vor dem Pariser Louvre. Und obwohl sie selbst zu Zeiten von Corona überhaupt nicht gut im Stillstehen ist („Ich habe nicht einmal Zeit für Netflix“), kann sie es gar nicht erwarten, wieder raus zu dürfen, auf Tour zu gehen. „Sehen wir uns nächstes Jahr in Berlin?“, fragt sie, und will dann unbedingt wissen, wie es so im Techno-Club Berghain ist. Und noch einmal kreischt Marie Ulven wie ein kleines Mädchen: „Ich flippe total aus, wenn ich da endlich rein kann!“
Album
Das Album „If I could make it go quiet“ ist am Freitag, 30. April erschienen.
Tournee
2022 geht Marie Ulven als Girl in Red auf Welttournee. Geplant sind Auftritte am 11. Mai in der Essigfabrik in Köln, am 20. Mai im Heimathafen in Berlin und am 21. Mai im Übel & Gefährlich in Hamburg.