Der erste sozialdemokratische Bundeskanzler hat die Nachkriegspolitik entscheidend geprägt und viele Menschen für sich eingenommen. Auch das Fernsehen beteiligt sich an dem Gedenken an Willy Brandt, der am 18. Dezember hundert Jahre alt geworden wäre.

Der Fotograf Konrad Rufus Müller hält zwei Aufnahmen in die Kamera: Willy Brandt aus vollem Halse lachend – ein Bild der Lebensfreude. Daneben Willy Brandt auf einer Bank sitzend, den gesenkten Kopf auf den Griff seines Wanderstocks gestützt – ein Bild, das das Gegenteil ausdrückt. Müller erinnert sich an die Situation. Rund dreißig Leute seien bei einer Wanderung um Brandt herum gestanden. Niemand habe sich getraut, ihn anzusprechen. „Du kannst ihn auch nicht in den Arm nehmen“, sagt Müller, der beim Vergegenwärtigen der Szene in die Gegenwartsform wechselt. Das passiert nicht nur ihm. Die Reporterin Wibke Bruhns, die Brandt einst für eine „Stern“-Reportage in den Familienurlaub begleiten durfte, berichtet von langen, journalistisch ergebnislosen Spaziergängen. Brandt habe die Leute nicht an sich herangelassen, sagt sie: „Über Ängste oder so etwas kannst du mit ihm überhaupt nicht reden.“

 

Vielleicht ist Willy Brandt wirklich noch „gegenwärtig“, weil sich ihm bis heute viele Menschen verbunden fühlen. Nüchterner gesagt: Der erste sozialdemokratische Bundeskanzler hat die Nachkriegspolitik entscheidend geprägt und viele Menschen für sich eingenommen. Und natürlich beteiligt sich auch das Fernsehen an dem Gedenken an Willy Brandt, der am 18. Dezember hundert Jahre alt geworden wäre, der als junger Mann vor den Nazis ins Exil in Norwegen fliehen musste und nach dem Krieg das bessere Deutschland verkörperte. Brandts Biografie, seine Erscheinung, auch seine Stimme bieten dem audiovisuellen Medium reichlich Material. Der Autor André Schäfer zeigt in seinem Film nicht nur die „Klassiker“, ohne die es nicht geht: Das „Mehr Demokratie wagen“-Zitat, den Kniefall von Warschau, die Verleihung des Friedensnobelpreises.

Seine Auswahl an Archivmaterial setzt Eckpunkte, die Brandts Politik-Verständnis und seine Ziele zum Ausdruck bringen: Sein prophetischer Satz „Der Tag wird kommen, an dem das Brandenburger Tor nicht mehr an der Grenze liegt“, gesprochen als Berlins Regierender Bürgermeister bei der 1.-Mai-Kundgebung 1959. Oder sein Werben für die Ostverträge im Bundestag, bei dem er „die Freundschaft mit den Völkern des Ostens“ beschwört und rhetorisch fragt: „Ist das nichts?“ Manchmal ist Brandt nur aus dem Off zu hören, was die Besonderheit seiner intensiven Stimme hervorhebt: „Mit das Bitterste war die boshafte Enge, wie einige im Lande auf den Lebensweg reagiert haben“, sagt der SPD-Politiker, der von Konrad Adenauer und dem konservativen Lager wegen seiner unehelichen Herkunft und seiner vermeintlichen Vaterlandsflucht diffamiert worden war. „Das hat mir sehr wehgetan“, sagt Brandt, wobei unklar bleibt, aus welcher Quelle dieser Ausschnitt stammt.

Die Brandt-Geliebte und ihre Briefe voller Glücksklee

Brandt setzte Emotionen frei, die hier in manchen Ausschnitten mit den Händen zu greifen sind, etwa bei Gerd Ruges Reportage vom DDR-Besuch in Erfurt 1970 oder beim Begeisterungssturm, der durch den Bundestag brandete, als 1972 der Misstrauensantrag von CDU/CSU gescheitert war.

Schäfer montiert das Archivmaterial mit Interviews, er hat eine stolze Zahl von Wegbegleitern vor die Kamera geholt: Bahr, der langjährige Vertraute, und Redenschreiber Klaus Harpprecht bilden die Fixpunkte. Dazu Brandt-Sohn Peter, der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering, Historiker Bernd Rother und mehrere Journalistinnen und Journalisten. Darunter die mittlerweile verstorbene Fotografen-Legende Josef Heinrich Darchinger sowie die Brandt-Geliebte Heli Ihlefeld, die noch den Brief mit dem Glücksklee aufbewahrt, den ihr der in „tiefer Zuneigung“ verbundene Kanzler geschickt hatte.

In der Analyse und der Genauigkeit bleibt der Film allerdings hinter manchem zurück, was hier und da schon zu lesen war. Über die Jahre im Widerstand und die Anfänge von Brandts Karriere in Berlin geht Schäfer in großen Sprüngen hinweg. Keine Rede auch von den Notstandsgesetzen und vom Radikalenerlass. Und in der Deutung des Kanzler-Rücktritts folgt der Film etwas zu brav der Darstellung von Bahr und Harpprecht, dass einzig Wehner der böse Bube gewesen sei, der Brandts Pläne nach der gewonnenen Wahl 1972 buchstäblich in der Aktentasche verschwinden ließ.