Hans-Jürgen Sostmann und Gerdi Knoll vor dem leeren Postgebäude Foto: stefanie schlecht/Stefanie Schlecht
Bevor die Gebäude auf dem Böblinger Postareal Ende des Jahres abgerissen werden, erinnern sich eine ehemalige Bewohnerin und ein Nachbar daran, wie das Leben um den Bahnhof herum pulsierte. Und an die Zeit, als Böblingen kaiserlichen Besuch empfing.
Der Blick in ihr ehemaliges Wohnviertel in Böblingen ist für Emma Knoll, die von allen nur Gerdi genannt wird, und Hans-Jürgen Sostmann mit Wehmut verbunden. „Unsere ganze Jugend, die Gebäude, die wir kannten, da steht nichts mehr“, sagt Sostmann. Er und Knoll wohnten in ihrer Kindheit und Jugend in der Nachkriegszeit in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs – und das Gesicht der Unterstadt hat sich seitdem enorm verändert. Bald wird nun mit dem Postareal ein weiteres Gebäude und damit ein großes Stück bauliche Stadtgeschichte abgerissen und damit eben auch ein Teil der Lebensgeschichte der einstigen Bewohner in Schutt aufgehen.
Das Postareal, das von Ex-OB Wolfgang Brumme im Jahr 1977 bei der Übergabe des ersten Bauabschnitts als „ein eindrucksvoller Akzent zum Bahnhof wie überhaupt für die ganze neue City“ bezeichnete Ensemble aus mehreren Gebäudeteilen, zeigt seine Fronten sowohl in der Bahnhof- als auch in der Tal- und Karlstraße. Jetzt soll es einem Projekt weichen, das an der Internationalen Bauausstellung (IBA) 2027 teilnehmen soll.
Eigentlich hätte der Abriss dieser Tage beginnen sollen. Jüngst hatte die Böblinger Baugesellschaft (BBG), die verantwortlich zeichnet, aber mitgeteilt, dass der Baggerbiss erst Ende des Jahres stattfinde. Geplant sind auf dem 6000 Quadratmeter großen Grundstück drei Baukörper. Besonders auffallen soll ein 60 Meter hohes Hochhaus. Das Gebäude in Holz-Hybrid-Bauweise soll verschiedene Wohnformen und Nutzungen vereinen. Was genau bis zur IBA 2027 stehen wird, ist fraglich.
Der Abriss
Das Ensemble, das in diesem Jahr weichen soll, ist freilich nicht das erste Postgebäude, das an dieser Stelle stand. Die Post, die zunächst am Postplatz untergebracht war, zog Anfang des Jahres 1908 in die Nähe des Bahnhofs, denn „Post und Bahn gehören zusammen“, wie Sostmann erklärt.
Hans-Jürgen Sostmann ist Jahrgang 1939 und wohnte gegenüber der Post in der Uhlandstraße, einer kleinen Stichstraße, direkt am Treff- und Feierpunkt der amerikanischen Soldaten – dem Gasthaus Zum Schönbuch mit dem legendären Schönbuchsaal. Das geschichtsträchtige ehemalige Gasthaus, in dem zuletzt eine Diskothek untergebracht war, musste 2012 dran glauben, als in der Unterstadt Platz für das Einkaufszentrum Mercaden geschaffen wurde. Damals wurden allein in der Bahnhofstraße vier Häuser abgerissen – insgesamt waren es neun Gebäude, die weichen mussten. Die Familie von Gerdi Knoll bewohnte in der Nachkriegszeit die obere Etage des ehemaligen Postgebäudes.
Hinter dem rechten Gaubenfenster im Obergeschoss lebten Gerdi Knoll und ihr Bruder. Foto: Archiv/Archiv
Unterstadt erhielt ein neues Gesicht
Die alte Post
Beide einstigen Quartiersbewohner erzählen, wie schön das alte Gebäude mit seinen halbrunden Fenstern im Erdgeschoss und dem kleinen Erker im ersten Stock gewesen sei. Zur Bahnhofstraße hin war die Sandsteinfassade mit dem runden Dachbodenfenster und den hölzernen Fensterläden ein Hingucker. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte das Gebäude sogar noch einen Turm für die Telegrafie. Noch dazu habe es nebenan eine kleine Wirtschaft gegeben, mit lauter Kastanienbäumen im großen Biergarten daneben. „Da haben sie nach dem Einmarsch der Franzosen die Schafe hingetrieben und geschlachtet“, sagt Sostmann.
Knolls Familie zog erstmals in das Postgebäude ein, nachdem das Haus der Familie in der Pfarrgasse ausgebombt worden war. Der Vater wurde als Briefträger angestellt und übernahm mit dem Einzug auch die Tätigkeit als Hausmeister. Ein Jahr vor Ende des Krieges, im Jahr 1944, musste die Mutter allerdings mit Tochter Ingeborg, Knolls älterer Schwester, aus dem zweiten Stock des Postgebäudes ausziehen. Als Grund vermutet Sostmann, dass das Gebäude zu stark beschädigt worden sei. Nach der Rückkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft und dem Kriegsende durfte die Familie 1949 wieder einziehen. In der Zwischenzeit waren auch Gerdi und ihr Zwillingsbruder Erich zur Welt gekommen. Die Knolls blieben in der Post, bis 1973 der Abriss begann. Der war der wachsenden Bedeutung von Post und Telefonie geschuldet. Privatisierung und Internet waren damals noch keine Themen.
Das ganze Viertel habe den Kindern damals zum Spielen gedient. In den Seen habe man gebadet, auf den sumpfigen Wiesen um den Bahnhof seien alle herumgetollt. „Da, wo jetzt die Mercaden sind, haben sich alle getroffen“, sagt Sostmann. „Die Kinder von der Wilhelmstraße haben noch dazugehört, die von der Stadtgrabenstraße aber schon nicht mehr.“
Hoher Besuch
Durch den Militärflughafen, den Bahnhof und das Daimler-Werk in der Nähe habe es rund um die ehemalige Post immer etwas zu gucken gegeben. „Wenn in den 1960ern die Fallschirmspringer vom Fallschirmjägerbataillon von einer Übung zurückkamen, gab es immer eine Parade“, erzählt Sostmann. Vor dem Geschäft der Firma Reisser, damals noch in der Unterstadt, sei dann ein Podest aufgebaut worden. „Es gab unheimlich viel Leben“, sagt Knoll. Man kann es sich vorstellen, es herrschten Aufbruch und Geschäftigkeit. In der Bahnhofstraße habe es noch viele Läden gegeben. Zudem hätten dort damals auch noch die Busse gehalten, so seien automatisch viele Menschen zusammengekommen. „Die Straße war so breit, dass dort zwei Omnibusse nebeneinander halten konnten“, sagt Sostmann.
Links erkennt man die alte Post an dem Telegrafenturm. Foto: Archiv/Archiv
Auch hohen Besuch habe Böblingen gesehen. Knoll und Sostmann erinnern sich an den letzten iranischen Schah Mohammad Reza Pahlavi und seine Frau Soraya Esfandiary Bakhtiary, die in den 1950ern mit dem Zug angereist seien, um das Mercedes-Werk in Sindelfingen zu besichtigen. Ebenso der letzte Kaiser von Äthiopien, Haile Selassie, der mit großem Jubel am Böblinger Bahnhof empfangen worden sei.
Rückkehr ins Bahnhofsviertel?
Die Welt war eine andere, vieles war gediegener, aber vielleicht hatte man auch nur einen anderen Blick auf das Leben und die Menschen im Viertel, allein schon deshalb, weil sich alle kannten? „Früher hat es in Böblingen viele Originale gegeben“, erzählt Sostmann. Er berichtet von einer Frau namens Hatsi, die in der Unterstadt Blumen verkauft habe. „Wenn man sie ärgern wollte, hat man geniest, während man an ihr vorbeiging. Da hat sie sich immer aufgeregt“, sagt er. Schrullig auch diese kleine Geschichte: Ein Mann sei immer mit einer Puppe unterwegs gewesen. „Er hat sogar für sie bestellt, wenn er mit ihr im Café war.“
Das ist Jahrzehnte her, seitdem hat sich das Gesicht der Nachbarschaft drastisch verändert. Der Abriss der Post hat Gerdi Knoll besonders getroffen. „Die jetzige Post ist so ein furchtbares Gebäude. Die alte Post war so schön“, sagt sie. Auch darum habe sie zunächst mit dem Gedanken gespielt, in den Neubau auf dem Postareal zu ziehen. „Ich wollte wieder dahin, wo ich herkomme“, sagt sie. Das plant sie jetzt nicht mehr. Sie will lieber in der Diezenhalde bleiben, statt in die Unterstadt zurückzukehren. Ein Grund sei die nüchterne Architektur der Innenstadt mit ihren hohen und gleichförmigen Gebäuden. „Da fühlt man sich erdrückt“, meint sie. Zudem fehle ihr das Grün. Hans-Jürgen Sostmann wünscht sich, dass sich im Neubau Elemente des ehemaligen Viertels wiederfinden. Er hat einige Säulen gerettet, die einen Platz finden könnten. „Aber ich weiß nicht, ob das gemacht wird“, fügt er hinzu.
Die Internationale Bauausstellung
Die Ausstellung Wie werden die Menschen in Zukunft bauen und zusammenleben? Das ist die Fragestellung hinter der Internationalen Bauausstellung 2027 Stadtregion Stuttgart (IBA’27). Die Ausstellungsorte sind in drei Jahren die teilnehmenden Projekte.
Projekte im Kreis An der IBA’27 nehmen im Kreis Böblingen drei Projekte teil. Sindelfingen will mit der Konversion des Krankenhausareals ein neues Quartier schaffen. Ebenfalls in Sindelfingen soll in der Innenstadt das Post-Voba-Areal einen Gebäudekomplex mit Kultur- und Bürgerzentrum sowie Wohnungen erhalten. In Böblingen soll auf dem Postareal neues Leben einziehen.
Probleme In den vergangenen Monaten hat sich gezeigt, dass die Projekte wohl nicht bis 2027 realisiert werden können. Die für das Postareal in Böblingen verantwortliche Böblinger Baugesellschaft (BBG) nannte die Prüfung von Fördermöglichkeiten für den Abriss sowie gestiegene Baukosten als Gründe. Beim Sindelfinger Krankenhaus muss die Stadt zudem hoffen, dass der Bau des Flugfeld-Klinikums im Zeitplan bleibt.