Der britische Autor Julian Barnes hat mit seinem Roman „Eine ganz normale Geschichte“ den Booker-Preis gewonnen. Nun gibt es das Buch auch auf Deutsch.

Stuttgart - Julian Barnes erweist sich immer wieder als der philosophische Kopf der zeitgenössischen britischen Literatur. Kaum ein Prosaautor unserer Tage geht so selbstverständlich wie er davon aus, dass Figuren, die nachdenken, dem schmissigen Fortgang einer Handlung nicht unbedingt schaden müssen. Mag sein, es liegt daran, dass sein älterer Bruder Jonathan als Philosophieprofessor lehrte, jedenfalls beschäftigen sich seine Helden gern und ausführlich mit den Kant’schen Fragen, was wir wissen können, tun sollen und hoffen dürfen. Für den Autor selbst gilt das auch: „Nichts, was man fürchten müsste“ hieß sein großer, im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienener autobiografischer Essay, in dem Barnes sich mit den letzten Dingen auseinandersetzt, ein in mancherlei Hinsicht bewegendes Buch, das die Aporien zeitgenössischer, also nachmetaphysischer Reflexion über die Tatsache unserer Sterblichkeit aufsucht und aushält.

 

Julian Barnes’ Ehefrau starb 2008 kurz nach Abschluss des Manuskripts. Nun hat er ihr ihr seinen jüngsten Roman gewidmet, „Vom Ende einer Geschichte“, der vor wenigen Wochen mit dem Booker Prize, dem wichtigsten englischen Literaturpreis, ausgezeichnet wurde. Dieses schmale Buch – selbst in der deutschen Übersetzung umfasst es kaum 180 Seiten – hat es in sich. Es beginnt mit den Erinnerungen an eine britische Schulzeit in den frühen Sechzigern . . . nein, eigentlich beginnt es mit Erinnerungsfetzen (deren einer, wie sich später herausstellt, gar keine „echte“ Erinnerung darstellt), es folgt eine Reflexion über das Wesen der Zeit – die erste von vielen, die den Verlauf der Erzählung sprenkeln werden.

Der Leser vermutet bald, dass die Vordringlichkeit des Themas Zeit mit dem Beruf des Erzählers zu tun hat: Anthony, genannt Tony, Webster blickt, wie sich nach und nach zeigt, als alter Mann auf das unaufregende Leben eines Historikers und Geschichtsprofessors zurück. Und zunächst geht man den Weg in Tonys Vergangenheit an dessen Hand vertrauensvoll mit, lässt sich gern pointierte Schnurren von seinen Jugendfreundschaften in der Schule in London gefallen, leidet mit ihm bei der ersten, ungut endenden studentischen Liebesgeschichte mit Veronica, akzeptiert seine Versuche, das Ende des juvenilen Freundschaftsbundes, zumal mit dem intellektuell herausragenden Adrian, einzuordnen, kurz, man nimmt ihm all das ab, was jeder Mensch sich zurechtlegt, um sein Selbstbild daraus zu basteln.

Das Testament bringt es an den Tag

Irgendwann allerdings kann Tony Webster sich das selbst nicht mehr abnehmen: Das Testament von Veronicas Mutter, der er nur ein einziges Mal begegnet ist, löst eine Welle von Selbstzweifeln, Nachforschungen und Reparaturversuchen aus. Ein Tagebuch, das Adrian bis zu seinem frühen Suizid geführt hat, wird für Tony zum Objekt der Begierde, er nimmt deshalb sogar wieder Kontakt zu Veronica auf. Und plötzlich muss der Leser erfahren und der Erzähler einsehen, dass mitnichten Tony, sondern vielmehr Veronica das Opfer in dieser Geschichte gewesen ist – und schließlich sogar, wie groß das Ausmaß von Tonys Beteiligung an all dem fatalen Unheil war, das Adrian zustoßen sollte.

Es ist Julian Barnes immer wieder gelungen, die Leser seiner Romane mit den irrsinnigsten Kippfiguren zu verwirren, zu betören und zu unterhalten, klassisch in „Flauberts Papagei“, politisch im „Stachelschwein“, bösartig in der Dreiecksgeschichte „Darüber reden“, blutig im Eifersuchtsdrama „Vor meiner Zeit“. Jetzt, in diesem neuen, zwar durchaus unterhaltsamen, aber auch sehr abgründigen Buch, zeigt sich die innewohnende Tragik von augenblicklicher und anhaltender Verkennung, zeigt sich das ganze „Schuld und Sühne“-Potential eines denkbar harmlosen, mittelmäßigen Jedermanns wie Tony Webster. „Vom Ende einer Geschichte“ ist ein kleiner Roman – und eine große Erzählung über die gleisnerische Erinnerung, das Porträt eines Mannes, der sich sein Leben lang von „Schaden“ so fern halten wollte wie nur möglich und am Ende merken muss, dass er sein eigenes Scherbengericht einberufen hat. Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte. Roman. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 182 Seiten, 18,99 Euro.