Der Regisseur Klaus Hemmerle erinnert an der Württembergischen Landesbühne Esslingen an den Ersten Weltkrieg und feiert „Weihnachten an der Front“.

Esslingen - Es ist eine der schönsten Szenen: die Feinde nehmen Kontakt auf, fordern einander auf, nicht zu schießen, tauschen Zigaretten aus und Kuchen, gehen vorsichtig auf einander zu. Sie versuchen, ins Gespräch zu kommen, was nicht nur durch Sprachprobleme erschwert scheint. Sie zeigen einander die Fotos ihrer Frauen. Da ist sie, die pazifistische Illusion, dass sich Kriege verhindern ließen, wenn sich die einzelnen Soldaten dem Auftrag zum Töten verweigerten.

 

Sie singen zusammen „venite adoremus dominum“, spielen wie übermütige Kinder. Da kommen die Generale und rufen sie zu den Waffen. Das versöhnliche Bild, das Helmut Ruge und Jérôme Savary von den letzten Tagen der Menschheit entwerfen, zerplatzt wie eine Seifenblase. Wer kann sich heute noch vorstellen, dass Franzosen und Deutsche einander vor hundert Jahren als Todfeinde gegenüber standen? Damals aber war es grausame Realität, und die Opfer auf beiden Seiten waren zahlreich.

Ein Stück geht um die Welt

Das erwies sich schon in seiner ersten Esslinger Intendanz als Friedrich Schirmers Stärke: die Ausgrabung zu Unrecht vergessener Stücke. Der vor zwei Monaten verstorbene Kabarettist Helmut Ruge hat die Revue „Weihnachten an der Front“ zusammen mit Jérôme Savary geschrieben, und der anderthalb Jahre zuvor verstorbene renommierte französische Regisseur hat sie 1981, unter Ivan Nagel, in Hamburg inszeniert. Das Stück übersiedelte kurz darauf nach Straßburg und reiste dann um die Welt. 2003 wurde es noch in Wuppertal und kürzlich in Beverstedt gespielt. Was lag näher als eine Inszenierung am Ende des Jahres, das der Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs galt. In Esslingen hat man sich für die Kompositionen der Uraufführung von Christian Hillion und Joachim Kuntzsch entschieden. Schirmer hat sich ja ausdrücklich zur üppigen Verwendung von Musik bekannt, und da kommt Jérôme Savary gerade gelegen. Die Zirkusuniformen der unverzichtbaren Multiinstrumentalisten erinnern an Savarys legendären Grand Magic Circus.

Zu Beginn liegen die französischen Soldaten mit einem schottischen Kameraden auf der einen Seite und die deutschen Soldaten auf der anderen, nicht einander gegenüber, sondern nebeneinander, hinter Sandsäcken im Schützengraben. Es ist Weihnachten, und die Männer reden, worüber man halt redet, wenn einem nicht gerade die Kugeln um die Ohren sausen: über Gänseleberpastete, die man auf warmem Toast essen muss, und über Champagner, aber auch über die Schuldgefühle, wenn ein Freund tödlich getroffen wurde. „Warum er, warum nicht ich?“ Wenn einer eine erotische Geschichte erzählt, hören alle gespannt zu, Deutsche wie Franzosen. Es gibt eben universale Interessen, die jeglichen Nationalismus vergessen lassen.

Zwischen den Szenen unterhalten musikalische Einlagen: es handelt sich ja um eine Revue. Während eine kahle Sängerin mit stilisiertem Frack und roter Krawatte, Mann oder androgyne Frau, ein Chanson im Stil der zeitgenössischen Cabarets singt, schleicht hinten ein Sensenmann mit Clownsnase vorbei. Im Trio ertönt das Lied von den fünf wilden Schwänen, die einst zogen, eine Karikatur der Germania trällert „Heidschi Bumbeidschi“ und preist die Vorzüge der Dicken Bertha, die vierzehn Kilometer weit trifft, und Lola und Jo tragen den frivolen Schlager „Woll’n Sie meiner Frau nicht mal die Uhr aufzieh’n“ vor.

Wenig Spielraum im Schützengraben

Wenn Jo gleich darauf, unmittelbar nach einer Liebeserklärung an Lola, eingezogen wird, streift der bunte Abend das sentimentale Klischee. Aber das macht nichts angesichts der leidenschaftlichen Intensität, mit der die Schauspieler allesamt ihre Rollen ausfüllen.

Da die acht Männer im ersten Teil vorwiegend im Schützengraben hocken und nur ihre Köpfe, allenfalls gelegentlich die Oberkörper zu sehen sind, bleibt Klaus Hemmerle wenig Spielraum für Bewegungsregie. Zum Glück verzichtet er auf billige Gags und konzentriert sich auf den Dialog: Weihnachten in Zeiten des Krieges.

Nur einmal, nach der Pause, serviert er dem Publikum ein Zuckerl: Die Herren dürfen als ungeschickte Revuegirls in Weiß und Pink blödeln.